Was gibt es heute?
Leben – oder: Das Todesgericht
Wer daran zweifelt, dass Tote leben, kann sich darüber Gewissheit verschaffen, wenn er oder sie – Lieschen Müller liest sie jeden Morgen zuerst in der Lokalzeitung – Todesanzeigen studiert. Denn die Verstorbenen werden darin häufig mit ‚Du‘ oder ‚du‘, ‚dir‘ oder ‚Dir‘ angesprochen. Sie müssen also noch auf Empfang sein: „Lieber Jörg, es ist für uns unbegreiflich. Dass du (!) von uns gehen musstest. Wir danken Dir (!) für unvergessliche Momente bei unseren gemeinsamen Fußballausfügen. Du (!) hast uns mit deiner (!) Lebensfreude viele, tolle Erinnerungen beschert. Wir wünschen dir (!) eine gute Reise“. – „Du (!) konntest viel, wusstest viel, warst immer mit dem Herzen dabei und jederzeit bereit zu helfen“. – „Du (!) warst ein besonderer und einzigartiger Mensch. Wir lieben und vermissen Dich (!)“.
Oder zeigt sich im Duzen von Toten keine Gewissheit ihres Weiterlebens, sondern eine Art Phantomschmerz, nur umgekehrt? Der geht bekanntlich von Körperteilen aus, die gar nicht mehr da sind. Der Tote ist auch nicht da, und es geht ein Schmerzensruf zu ihm hin. Oder ist das Duzen der Verstorbenen ein Euphemismus, der den Tod verneint und von ihm ablenken, ihn verdecken will? Ja, das kann auch sein.
Haben die Duz-Briefe Adressen im Jenseits oder Adressen im Diesseits? Hier lassen sich drei Typen unterscheiden. Die einen sagen so, die anderen anders: „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanft, sanfte ruh!“ Interaktion ausgeschlossen? Außer solchen Diesseitsbriefen ins Grab gibt es Diesseitsbriefe, die ins Herz oder Hirn gehen: „Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind […] Du bleibst in unseren Herzen“ – „Du hast in deinem Leben so viel bewegt. Die Steine, die du ins Rollen gebracht hast, rollen weiter. Wir behalten dich im Herzen“. – „Du bleibst in unserer Erinnerung“. Interaktion? Duz-Briefe ins Jenseits lauten dagegen so: „Vieles hast Du uns gegeben, nun ruhe sanft in Gottes Hand“. Interaktion möglich?
Neben den Duz-Briefen, den Todesanzeigen in der 2. Person, die ins Jenseits oder nur ins Diesseits reichen sollen, gibt es auch Todesanzeigen in der 3. Person, weiblich oder männlich: „Betroffen und traurig nehmen wir Abschied von Herrn xy“. – „Wir trauern um […] einen jahrzehntelangen Mitstreiter und Freund […], wenn es galt, den alten und neuen Nazis entgegenzutreten“. – „In Liebe und großer Dankbarkeit lassen wir sie gehen und werden sie nie vergessen“. – „Sein völlig unerwarteter Tod ist ein gravierender Verlust für uns alle. Wir verlieren […] eine ausgeprägte Unternehmerpersönlichkeit“.
Auffällig ist, dass das Duzen spätestens dann aufhört, wenn die Beziehungen zu den ehemals Lebenden eher sachlich getönt waren. Höflichkeit? Noch auffälliger: Das Duzen wird dann nicht einmal durch ein Siezen ersetzt, was dann so heißen könnte: ‚Betroffen und traurig nehmen wir Abschied von Ihnen, Herr xy‘, oder: ‚In Liebe und Dankbarkeit lassen wir Sie gehen und werden Sie nie vergessen“. Nein, die direkte Ansprache hört dann ganz auf. Es verstummt das Duzen und Siezen zugleich. Genauer: Siezen kommt in Todesanzeigen nicht vor. Es ist offensichtlich ein Anrede-Tabu, in Todesanzeigen zu schreiben: ‚Wir werden uns Ihrer stets in Dankbarkeit erinnern. Unsere Anteilnahme gilt Ihnen und der von Ihnen innig geliebten Familie“. Selbst die Todesanzeige einer Kirche für ihren Bischof vermeidet das Du und auch das Sie: „In der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Deutschland und in der Ökumene hat er (!) wichtige Impulse gesetzt. Er (!) wusste sich in seinem Dienst von Gottes Geist getragen und strahlte eine Hoffnung aus, die viele Menschen in ihrem Glauben stärkte“. Weshalb heißt es unter Brüdern und Schwestern nicht ‚Du‘ (oder höflich ‚Sie‘)?
Die Anrede der weiterlebenden Toten (im Diesseits oder Jenseits) scheint eine Angelegenheit allenfalls von Intimgruppen (Partnerschaften, Ehen, Familien), Freundschaften und Engagementgruppen zu werden. Aber selbst in den deutschen Männergesangvereinen ist dieser Glauben offensichtlich am Bröckeln: Er „hinterlässt nicht nur eine große Lücke im Verein, sondern auch als Sänger und Freund. Alle Sänger, Vorstandmitglieder und Chorleiter haben beschlossen zu Ehren Peter, das 100 Jährige Vereinsfest durchzuziehen und den Verein in seinem (!) Sinne weiterzuführen“. Die Sangesbrüder schreiben nicht: ‚in deinem Sinne‘ oder ‚zu deinen Ehren‘. Erst recht nicht: ‚in Ihrem Sinne‘ oder ‚zu Ihren Ehren‘. Wohlgemerkt: Siezen geht in Todesanzeigen nicht, allenfalls Duzen. Der verstorbene Sangesbruder lebt nicht mehr weiter, sondern ‚idealisiert‘ sich im ‚Durchziehen‘ und ‚Weiterführen‘ des Vereins und seiner Heldengeschichte.
Aber auch Duz-Beziehungen gehobener Gesellschaftskreise vermeiden fast immer das ‚Du‘ in den Todesanzeigen für ihre Verstorbenen: „Für uns alle unfassbar verstarb […] unser liebevoller Ehemann und Vater. Er (!) war ein Innovator, ein Kämpfer, ein Streiter für das, was er (!) als recht und aufrichtig ansah.“ – „In liebevoller Erinnerung nehmen wir Abschied vom Mittelpunkt unserer Familie. Er (!) verließ uns nach einem langen, arbeitsreichen und erfüllten Leben“. – „Nach einem selbstbestimmten Leben voller Fürsorge und Einsatz für ihre (!) Familie und Freunde ist sie (!) – nur ein Jahr nach dem Heimgang ihres (!) geliebten Ehemannes – plötzlich und unerwartet verstorben“. – „Meine Liebste, unsere Freundin, hat sich (!) […] auf dem Wiener Zentralfriedhof das Leben genommen durch Erdrosseln […] Wir müssen es akzeptieren und ohne sie (!) weiterleben“.
Leben die Toten also und, wenn ja, wo? Offensichtlich sind die Toten in der bürokratischen wie kapitalistischen Organisationsgesellschaft tot und in einigen Familien lebendig. Im gesellschaftlichen Fadenkreuz zwischen Privatsphäre hier und öffentlicher Sphäre dort (horizontal) und zwischen den Familien oben und unten (vertikal) entscheidet sich, ob die Toten leben oder tot sind. Das Todesgericht ist kein Totengericht Gottes mehr, sondern ein diesseitiges Gericht der Lebenden.