Was gibt es heute?
Himmel und Erde – oder: das Speichergericht

Sage niemand, wir lebten in einer völlig säkularisierten Gesellschaft. Meine auch niemand, nur die sozialen Strukturen – Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Autobahnen, Deutsche Bahn und Krankenkassen – seien verweltlicht, die Einzelpersonen aber nicht. Nicht nur Einzelpersonen glauben daran, dass ihre Lieben weiterleben, nicht nur Einzelpersonen sprechen die Toten an, als seien sie noch auf Empfang und würden Zeitung lesen, etwa Todesinserate oder Erinnerungsanzeigen („Auch nach Jahren fehlst DU mir“). Auch Krankenkassen schreiben solche ‚Himmelsbriefe‘. Sie verwenden dafür zwar kein Zeitungspapier, auch keine schwarze Umrandung, sondern schnörkelloses Briefpapier. So erhält der vor zwei Monaten Verstorbene, wie jüngst geschehen, von seiner Krankenkasse – ohne Kreuz, aber mit Logo – folgenden Brief mit der Betreffzeile „Ihre neue Zuzahlungsgrenze für das Jahr 2021“:

„Guten Tag Herr X.,

vielen Dank für die Information, dass sich Ihre Einnahmen verringert haben. Dadurch ergibt sich eine geringere Zuzahlungsgrenze:
Belastungsgrenze alt: ab, cd EUR
Belastungsgrenze neu: ef, gh EUR

Das Guthaben von wx, yz EUR haben wir auf das uns bekannte Konto überwiesen.
Unser Berechnungsbogen zeigt Ihnen, wie wir die neue Zuzahlungsgrenze berechnet haben.

Falls Sie Fragen haben, rufen Sie uns einfach an.
Freundliche Grüße
NN

Wir sind auch digital für Sie da …“.

Nicht nur wird in dem Brief der Kommunikationsaustausch zwischen Immanenz (‚Guten Tag‘; ‚vielen Dank‘; ‚Freundliche Grüße‘) und Transzendenz (Ihre ‚Information‘; Ihre ‚Fragen‘; ‚rufen Sie‘) unterstellt, scheint man doch wechselseitig auf Empfang zu sein: ‚WIR sind auch digital für SIE da‘. Auch der Geldverkehr funktioniert wohl zwischen Diesseits und Jenseits, kommuniziert die Krankenkasse.

Anruf bei der Krankenkasse. Frage: ein Versehen? Antwort: kein Versehen! Das technische Programm lasse sich nicht ändern und behandelt die Toten als Lebende. Auch Facebook – die Austauschplattform für Lebende – sorgt für digitale Ewigkeiten. Was dort und anderswo gepostet wird, ist auch postmortal verfügbar. Tote als lebende Mitglieder von Facebook rauben viel Speicherplatz, geben aber Hinterbliebenen Trost. Neue Ewigkeiten scheinen zu entstehen und miteinander zu konkurrieren: Facebook eternity, Krankenkassenewigkeit, old religion, new religion. Welche Ewigkeit gewinnt? Wohl die, die mehr Trost und Heil spendet. Und mehr Speicherplatz hat.