Was gibt es heute?
Konjunktiv – oder: das Verfälschungsgericht
Über Tote rede man nur gut, aber vor allem wahrhaftig. Ein Tag, bevor Hans Küng in Tübingen in der Nähe von Walter Jens beerdigt wurde, wühlte es mich nicht auf, dass ihm die „katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“ mehrere – kritische – Beiträge widmet. Mich macht vielmehr fassungslos, dass sich diese „Tagespost“ daran beteiligt, Unwahres über ihn zu verbreiten. Bourdieu hat recht, wenn er das kirchliche Feld – wie jedes andere soziale Feld – als eine Arena der Auseinandersetzung begreift. In dieser Arena wird nicht nur mit legitimen Mitteln gekämpft.
So bespricht in der Ausgabe vom 15. April 2021 die Professorin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz („Moral statt Dogma“, S. 14) eine rumänische Doktorarbeit über Küng und gibt dabei ein Zitat aus dessen Buch („Theologie im Aufbruch“, 1987, S. 288) wieder. Mich irritiert nicht die falsche Seitenangabe (es müsste heißen: S. 287), sondern das falsche Zitat. Die Professorin, die in der gleichen Ausgabe als „redliche Philosophin“ portraitiert wird, schreibt, Hans Küng habe behauptet, das Christentum habe die Gestalt Jesu – wortwörtlich – „verfälscht“. Richtig ist allerdings, dass sie – wissentlich, fahrlässig? – Küng verfälscht. Der gibt nämlich bloß kritische Einwände von nicht-christlicher Seite gegen das Christentum wieder, wechselt also von der Innen- in die Außenperspektive. Weil er den Dialog mit Andersgläubigen sucht, nimmt er deren Kritik zur Kenntnis, versucht sich in deren Perspektiven hineinzuversetzen: „Das Christentum wirkt“, schreibt Küng (S. 286f), „auf Angehörige anderer Religionen trotz seiner Liebes- und Friedensethik in Auftreten und Tätigkeit vielfach exklusiv intolerant und aggressiv; – es wirkt auf andere Religionen nicht ganzheitlich, sondern – wegen seiner Jenseitsbezogenheit, Welt- und Leibfeindlichkeit – innerlich zerrissen; – es übertreibe beinahe krankhaft das Sünden- und Schuldbewusstsein des im Kern angeblich verdorbenen Menschen …“. Und am Ende dieser kleinen Liste an Einwänden, die von außen gegen das Christentum gerichtet werden, heißt es: „- es verfälsche (!) obendrein durch seine Christologie die Gestalt Jesu, die in den anderen Religionen fast durchgängig positiv gesehen werde, zu einer exklusiven göttlichen Gestalt (Gottessohn)“. Küng schreibt nicht: ‚es verfälscht …‘.
Bekanntlich kann es zur Lüge werden, Indikativ und Konjunktiv zu verwechseln. Als Modus der Kommunikation von Wirklichkeit wird der Indikativ ja genutzt, um eine Tatsache zum Ausdruck zu bringen. Der Konjunktiv dagegen ist der Wunsch- oder Möglichkeitsmodus: „Du wählst ihn immer dann, wenn Du an den Satz anschließen könntest: ‚Ist es aber nicht‘. Er drückt aus, dass etwas unwahrscheinlich oder unmöglich ist“, heißt es treffend auf einem Erklärvideo auf Youtube, in dem aber auch beklagt wird, dass der Konjunktiv am Aussterben sei. Oder der Konjunktiv gibt in indirekter Rede wieder, was andere angeblich oder anscheinend gesagt haben: „Lisa kennzeichnet mit dem Konjunktiv 1, dass das Gesagte nicht von ihr stammt“, heißt es in dem Youtube-Filmchen weiter.
Es kann auch zu fortgesetzten Fälschungen kommen, wenn nicht aus dem Original zitiert wird. Ich untersage es Studierenden nachdrücklich; und es entsteht sonst das Risiko einer Fälschungskette auch unter Wissenschaftler*innen. Kann es sein, dass in der rumänischen Doktorarbeit (sie liegt mir nicht vor) Küng falsch zitiert wurde, und die Professorin das tat, was ich Studierenden verbiete? Wer – so oder so – „eine Tatsache behauptet oder verbreitet“, welche eine Person „verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist“ (§186 des deutschen Strafgesetzbuchs), sollte, so meine ich, diese Behauptung zumindest zurücknehmen, zumal sich die betreffende Person – Hans Küng – nicht mehr wehren kann.
Außerdem kann es zu kognitiven Selbstverschließungen führen, wenn in einer Weltgesellschaft der Weltreligionen nicht das Vom-anderen-her-Denken eingeübt wird, wie es der Verstorbene immer und immer wieder versuchte. Im Christentum wird ein solcher Versuch, er mag gelingen oder nicht, ‚Liebe‘ genannt. Und garantiert verliert man an Glaubwürdigkeit, wenn durch Falschzitate noch eine andere Liebe, die Liebe zur Weisheit, die ja eine Philosophin zieren sollte, auch nicht mehr ist, was sie einmal war.
Und man verliert an Freundlichkeit, wenn man sich an der Demontage und Demütigung eines Toten beteiligt, dem einige immer noch das Etikett ‚katholischer‘ Theologe entziehen wollen. „Freundliche Aufmerksamkeit und unaufgeregt-ehrliche Kritik führt sie gewinnbringend zusammen“, heißt es in der gleichen Ausgabe der Tagespost über die Philosophin. Das war auch ein Markenzeichen von Hans Küng – bis auf das „unaufgeregt“. Auch ich wäre aufgeregt, wenn der anregende bis aufregende Konjunktiv aussterben würde.