Was gibt es heute?
Küng – oder: das Ausweichgericht

Im Kontrast zu einer „Kultur, die das Opfer sucht, menschliches Leiden hinnimmt und den Künsten den Auftrag gibt, dafür die passenden Bilder zu finden“, stellt der Soziologe Dirk Baecker für die Gegenwart die „Lebensform des Wechsels“ heraus: Man könne „sich Gegebenheiten dort schaffen, wo und wie man sie braucht“ (Welchen Beitrag kann die Kultur zur Bewältigung der Corona-Krise leisten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 71, 29. März 2021). Unsere Kultur präferiere den „Wechsel zwischen verschiedenen Situationslogiken“, Perspektiven und Erfahrungsräumen. Charakteristisch für diese Lebensformen sei, „dass sie für jede beliebige soziale Situation Ausweichchancen schaffen“: Man ist „fast nie gezwungen, die jeweilige Situation länger auszuhalten, als man dazu bereit ist“. Die Hochschätzung dieser Lebensform des Wechsels und Ausweichens wird uns angesichts der Limitierungen in der derzeitigen Pandemieerfahrung ganz besonders bewusst. So kann (oder konnte?) man „aus der Arbeit in den Konsum, aus der Familie in die Freizeit, aus der Politik in die Wirtschaft, aus den Massenmedien in die Religion oder die Wissenschaft ausweichen und umgekehrt“. Es lässt sich sogar vom Leben in den – mehr oder weniger assistierten – Tod ausweichen, allerdings ohne Wiederkehr und Umkehr.

Hans Küng, der am 6. April 2021 mit 93 Jahren so gestorben ist, dass er den Beschwerden des Lebens nicht selbstaktiv ausweichen musste, was er gegebenenfalls wollte, starb so, wie er es eigentlich wollte. Und Beschwerden hatte er, an die man sich mit seinen „Erinnerungen“ erinnern kann (Hans Küng, Erlebte Menschlichkeit 2013). Darin lobt er seine Hände, doch: „Ab jetzt sind meine Finger alt geworden. Sie versagen mir die schönen Bögen in meiner Schrift. Meine Schrift ist kleiner geworden; Mikrographie nennen dies die Ärzte“. Er lobt seine Ohren, haben ihm doch „diese kunstvollen kleinen Organe […] unermessliche Dienste geleistet“, auch beim Hören klassischer Musik. Aber ein Hörsturz erinnert ihn an das „Schicksal Beethovens“ und schreckt ihn. Er lobt seine Augen, denn „Millionen große und kleine Bilder haben sich in meinem Gehirn abgebildet, schreckliche und schöne“. Doch: Diagnose Makula-Degeneration. Eine weitere „Diagnose ist eindeutig und schockierend: Es handelt sich um die ersten Anzeichen der Parkinsonkrankheit mit möglichen Auswirkungen auf Bewegungsapparat und Stimmbänder“. So fragt sich der Gelehrte auch mit Blick auf seine Mitwelt: „Werde ich bald nur noch der Schatten meiner selbst sein“, wie Mohammed Ali „der ganzen Welt vorgeführt: stier und stumm, zum Erbarmen“? Er wollte auch nicht in ein Pflegeheim ausweichen, d.h. „abgeschoben werden“, nicht jahrelang im künstlichen Koma liegen oder künstliche Ernährung zu sich nehmen. Und schon gar nicht wollte er wie der ebenfalls an Parkinson leidende Karol Wojtyla, „statt zugunsten eines Nachfolgers endlich zurückzutreten, mein Sterben in aller Öffentlichkeit zur Schau stellen“. Die Sterbepraxis seines päpstlichen Peinigers fand er „peinlich“. Einer seiner anderen Peiniger (Ratzinger) hat bekanntlich dazugelernt und ist – mit Todesahnung – (halb) zurückgetreten. Küng bejahte für sich und andere eine „barmherzige Sterbehilfe“ als Ausweichmöglichkeit und kritisierte die „selbsternannten ‚Lebensschützer‘“, die „meinen, über Zeitpunkt und Art des Sterbens anderer Menschen entscheiden zu können und zu dürfen. Über ihr eigenes Sterben mögen sie befinden“, anderen Menschen jedoch die Ausweichmöglichkeiten nicht verbauen: Die Einzelperson „selber und nicht ein anderer Mensch, eine andere Autorität oder Organisation hat darüber zu entscheiden“.

Küng lobte die Ausweichmöglichkeiten, die ihm das Gesundheitssystem boten: „Medizin und Pharmazie verdanke ich praktisch eine weitere künstliche Lebensperiode“. Mit seinem Rücktritt als Präsident dreier Stiftungen und der Regelung der Nachfolgefrage mit Hilfe anderer konnte Küng ebenfalls ausweichen und war „richtiggehend erleichtert, dass ich mich nicht mehr um das Tagesgeschäft kümmern muss, keine Präsenzpflicht mehr bei Vorstandssitzungen und vor allem befreit bin von der oft drückenden Verantwortung für alles und jedes“.

Seinem Leben musste Küng nicht selbstaktiv ausweichen, über sein Sterben nicht selbst entscheiden. „Ich weiß nicht, wann und wie ich sterben werde. Vielleicht werde ich plötzlich abberufen, und mir wird eine eigene Entscheidung erspart. Das wäre gut so“. So war es gut. Aus dem Mittagsschlaf ist er nicht mehr aufgewacht. Entscheiden müsse sich aber jeder Mensch, so Küng, für ein Ja oder ein Nein zu Gott, freilich „ohne intellektuellen Zwang, aber auch ohne strikten rationalen Beweis“. Letztlich und grundsätzlich gäbe es da kein Ausweichen. Man könne der Gottesfrage nur scheinbar „ausweichen, sie hinausschieben oder schlicht verdrängen.“ „Entweder der Mensch wagt ein (vor der Vernunft verantwortbares und deshalb durchaus vernünftiges) Vertrauen auf eine Erste-Letzte Wirklichkeit, oder eben nicht. Beides“, so Küng, „ein Wagnis, beides ein Risiko. Auch wer nicht wählt, trifft eine Wahl. Stimmenthaltung angesichts dieser Grundfrage bedeutet Vertrauensverweigerung“. Die Wette Blaise Pascals, dass ich nichts verliere, wenn ich an Gott glaube, dass ich aber alles gewinne, wenn es ihn gibt, gilt noch immer. Und so schreibt der Tübinger Meister, der 24 Bände seiner Werke hinterlässt: „Sollte ich mich doch getäuscht haben und ich nicht in Gottes ewiges Leben, sondern in ein Nichts hineinsterben, dann habe ich jedenfalls ein besseres und sinnvolleres Leben geführt als ohne diese Hoffnung“.

Es ist eine Schande, dass die römische Obrigkeit einer Versöhnung mit diesem frommen Menschen ausgewichen ist, ohne ihr Urteil zu wechseln, ohne umzukehren. „Früher sah ich den Tod von meinem Leben her, jetzt umgekehrt mein Leben vom Tod her“, schreibt er. Eine solche Lebensform des Wechsels sei uns – gelegentlich – allen empfohlen, diesseits und jenseits der Alpen, die Küng so liebte.