Was gibt es heute?
Stigma – oder: das Segensgericht

Der Papst sei „ein freier Mann“, weshalb er hätte schweigen können, sagt der Theologe Magnus Striet aus Freiburg (Der Sonntag vom 28.03.2021). Deshalb „hätte er nicht seine ausdrückliche Zustimmung zu dieser Erklärung geben müssen“. Hat er aber. Er hätte ja wohl auch die Vollmacht gehabt, „nichts zu sagen“, meint Striet. Der Papst hat aber – ob ‚frei‘ oder (eher) nicht – zugestimmt. Sein ‚Ja‘ betrifft ein ‚Nein‘. „Unmissverständlich“ sei das ‚Nein‘, meint sein Freiburger Kollege Hoping (Die Tagespost vom 18.03.2021) betonen zu müssen, dieses ‚Nein‘ zur Praxis des Segnens gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen. Wörtlich heißt es aus Rom:

„AUF DAS VORGELEGTE DUBIUM:

Hat die Kirche die Vollmacht, Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts zu segnen?

WIRD GEANTWORTET:

Nein.“

Was unmissverständlich für die einen ist, ist unverständlich für andere, was für die einen die Klärung eines Zweifels (‚dubium‘) ist, lässt andere zweifeln und auch verzweifeln. Und alle diejenigen, die es wissen müssten. Oder haben sie und all die anderen ‚Verständnislosen‘ verdrängt und abgespalten, wofür die offizielle Kirche steht? Freilich bietet sie auch Nischen des Erlebens, des Denkens und des Träumens, welche die Kirche des Normierens vergessen lassen können.

Es ist eines der vielen – defensiven – Neins der letzten Jahre und Jahrzehnte, mit denen höchste Repräsentanten der Kirche Grenzen ziehen wollen, aber Grenzziehungskämpfe eher befeuern: Nein zur sogen. künstlichen Empfängnisverhütung, nein zur Zulassung  ‚wiederverheiratet Geschiedener‘ zur Kommunion, nein zur Zulassung von Frauen zur Priesterweihe, nein zum Sex vor der Ehe, nein, nein, nein … . Mit seinem Ja zu diesem – vorläufig letzten – Nein reiht sich der Papst in die Reihe der päpstlichen Neinsager vor ihm ein. Dabei irritiert er inner- und außerkirchlich diejenigen, die an ihn andere Erwartungen hatten. Auch sie reagieren mit ‚Nein‘: ‚Nein‘ zum päpstlichen ‚Nein‘. Hoping sagt ‚Ja‘ zu diesem ‚Nein‘, Striet sagt ‚Nein‘ zum ‚Nein‘. Und beide stehen sich in der – so scheinbar ‚einen‘ – Kirche gegenüber und damit nicht allein.

Beide wissen, dass Franziskus schon vor fünf Jahren – in „Amoris laetitia“ von 2016 (Nr. 251) – seine Vorgänger Ratzinger und Johannes Paul II. zustimmend zitiert und damit sein Nein begründet hat, dass „es keinerlei Fundament dafür [gibt], zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.“  Joseph Ratzinger und Johannes Paul II. hatten genau diesen Satz, der auch zur Begründung des jetzigen Neins wieder auftaucht, wortwörtlich schon 2003 geschrieben. In diesen „Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen“ steht noch mehr drin, was das Nein Roms zum Segen solcher Lebensgemeinschaften angeht. Roms Gründe für die Ablehnung einer rechtlichen Anerkennung homosexueller Paarbeziehungen sind auch die Basis für das Nein zur kirchlichen Anerkennung durch Segnung. Denn es geht um einen „Kampf um Anerkennung“ (Axel Honneth), den die Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft hierzulande freilich schon verloren hat.

Jene „Erwägungen“ von 2003 sind ein Diskriminierungsdokument, obwohl oder gerade weil es – wortwörtlich – „eine ungerechte (!) Diskriminierung homosexueller Menschen“  (Nr. 5) ablehnt. Diskriminiert werden homosexuelle Beziehungen, denen auch das neueste – wiederholte –  Nein gilt. Homosexuelle Beziehungen werden darin ‚auf Teufel komm raus‘ etikettiert. Zunächst werden sie als „ein beunruhigendes moralisches und soziales Phänomen“ (Nr.1) problematisiert. Dabei hält die heterosexuelle Ehe als normative Folie her, die wiederum mit einem Dritten in Verbindung gebracht wird, den noch niemand gesehen hat. Denn Mann und Frau „vervollkommnen sie sich gegenseitig und wirken mit Gott an der Zeugung und an der Erziehung neuen Lebens mit.“ (Nr. 2). Die „Komplementarität der Geschlechter und die Fruchtbarkeit“ gehörten nun einmal „zum Wesen der ehelichen Institution“ und diese zum „Plan des Schöpfers“.

Höher geht’s nicht. Immerhin, merke ich an, hat ‚der Schöpfer‘ inzwischen seinen ‚Plan‘ gewissermaßen horizontalisiert, wurde doch vormals nicht die Komplementarität (horizontal), sondern die Hierarchie (vertikal) der Geschlechter mit der Fruchtbarkeit kombiniert (vgl. Michael N. Ebertz, Die institutionelle Familiensemantik im Katholizismus, in: Karl Gabriel/Hans-Richard Richard, Hg.: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland, Tübingen 2017).  Der göttliche Plan, heißt es in den ‚Erwägungen‘ weiter, sei „in den biblischen Schöpfungsberichten enthalten“ und auch in der „ursprünglichen menschlichen Weisheit […], in der sich die Stimme der Natur selbst Gehör verschafft“ (Nr. 3). Bar jeder erkenntnistheoretischen Kontrolle wird, weil ‚göttlich‘ gewollt und ‚natürlich‘ erkennbar, geschlussfolgert: „Die Ehe ist heilig“ (Nr. 4).

Dementsprechend wird das ‚beunruhigende Phänomen‘ als Problem der Abweichung gerahmt, genauer gesagt, als Problem der Illegitimität stigmatisiert, wovor die Gesellschaft, insbes. die Jugendlichen, aktiv zu schützen sei. Homosexuellen Beziehungen wird zum einen ein defektives Stigma zugeschrieben, da ihnen die Fortpflanzungsfähigkeit abgeht. „Denn bei den homosexuellen Handlungen bleibt ‚die Weitergabe des Lebens […] beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen‘“, so wird der Katechismus (Nr. 2357) zitiert. „Den homosexuellen Lebensgemeinschaften“, so heißt es immer wieder, „fehlen ganz und gar die biologischen und anthropologischen Faktoren der Ehe und der Familie, die vernünftigerweise eine rechtliche Anerkennung solcher Lebensgemeinschaften begründen könnten. Sie sind nicht in der Lage, auf angemessene Weise die Fortpflanzung und den Fortbestand der Menschheit zu gewährleisten“ (Nr.7).

Homosexuellen Lebensgemeinschaften wird außer dem Reproduktionsdefekt ein moralisches Stigma zugeschrieben, weil sie „gegen das natürliche Sittengesetz verstoßen“ (Nr. 4). Dieses „moralische Urteil“ „verurteilt“ sie als „objektiv ungeordnet“, als „abwegig“, als „schwere Verirrungen“. ja als „Anomalie“. Wer sie verteidigt oder auch nur unterlässt, gegen ihre staatliche Legalisierung vorzugehen, begehe „eine schwerwiegend unsittliche Handlung“. Damit kommt ein religiös kulpatives Stigma hinzu. Eine dritte Wunde wird eingeschlagen. Homosexuelle Praktiken werden als „‚Sünden, die schwer gegen die Keuschheit verstoßen‘“, klassifiziert. Erinnert wird daran, „dass die Toleranz des Bösen etwas ganz anderes ist als die Billigung oder Legalisierung des Bösen“ (Nr. 5). Sagte ich nicht: ‚auf Teufel komm raus‘? Und der ist der ‚diabolus‘, der Verwirrer und Durcheinanderwerfer. Ein intellektuelles Stigma wird denjenigen zugeschrieben, die das illegitime Phänomen homosexueller Lebensgemeinschaften rechtfertigen oder bloß tolerieren. Die Tolerierung oder gar Legitimierung von kirchlich als widernatürlich und widergöttlich definierten Beziehungen wird als ‚ideologisch‘ abgestempelt. Rom befiehlt, dass „alle Gläubigen verpflichtet sind, gegen die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften Einspruch zu erheben“ – „die katholischen Politiker in besonderer Weise“ (Nr. 10). Das Stigma der Schädlichkeit beschädigt die soziale Identität der homosexuellen Lebensformen zudem, wenn sie mit „schwerem Schaden für das Gemeinwohl“ assoziiert werden und durch „das Einfügen von Kindern […] durch Adoption […] diesen Kindern Gewalt antun in dem Sinn, dass man ihren Zustand der Bedürftigkeit ausnützt, um sie in ein Umfeld einzuführen, das ihrer vollen menschlichen Entwicklung nicht förderlich ist“ (Nr. 8). Homosexuelle Lebensgemeinschaften seien deshalb zu bekämpfen, „damit das Gewebe der öffentlichen Moral nicht in Gefahr gerät und vor allem die jungen Generationen nicht einer irrigen Auffassung über Sexualität und Ehe ausgesetzt werden, die sie des notwendigen Schutzes berauben und darüber hinaus zur Ausbreitung des Phänomens beitragen würde“ (Nr. 5).

Interessant ist also zu beobachten, wie eine institutionalisierte Religion – das römische Zentrum der katholischen Kirche – Gott und die Welt beobachtet. Und noch interessanter ist, dass sie sich nicht einmal dadurch beeindrucken lässt, dass sie beim Beobachten beobachtet wird. Luhmann hätte wahrscheinlich gesagt: „Die wie immer brüchige Sicherheit des eigenen Glaubens wird als nichtanpassungsbereit kommuniziert. Und das Besondere wird genau deshalb scharf akzentuiert, weil man weiß oder doch antizipieren kann, dass es in vergleichender Perspektive gar nichts Besonderes ist, sondern […] ein ‚Fundamentalismus‘ wie alle anderen auch“ (Religion als Kultur, Frankfurt 1996).

Weitaus interessanter ist freilich zu beobachten, wie einige von denen, die Rom kritisch beim Beobachten von Gott und der Welt beobachten, hoffnungsvolle Erwartungen bzw. Enttäuschungen kommunizieren. Wie können sie denn enttäuscht sein, frage ich, dass eine Institution verweigert, eine Lebensform zu segnen, der sie fünf Wunden einschlägt, sie multipel diskriminiert, diskreditiert und stigmatisiert? Ei wo leben sie denn? Wie kann man denn hoffen, dass sie diese Kehrtwende hinkriegt, ohne dass Gott seine Pläne, die Rom genau zu kennen glaubt, korrigiert? Ei was hoffen und glauben sie denn? Und woher wissen die Kritiker Roms, „worin der Wille Gottes besteht“ (Striet)? Ei was wissen sie denn? Hat er Pläne des Heils, nicht der Stigmatisierung? Woher kommt realistische Hoffnung auf Entstigmatisierung, auf einen turn around? Hoping und Striet sagen beide voraus, dass die Debatte um homosexuelle Lebensgemeinschaften in der kirchlichen Arena weitergehen wird. Statt turn around: walk in a circle? Ei wozu denn?

Der Kampf um den kirchlichen Segen ist ein Kampf um Stigmatisierung und Entstigmatisierung. Doch wäre Entstigmatisierung nicht auch mit bloßem Segen verfehlt, dem ja nur die Qualität einer ‚Sakramentalie‘, nicht aber eines Sakraments zukommt? Setzen diejenigen, die heroisch für den kirchlichen Segen homosexueller Lebensgemeinschaften kämpfen, nicht auf weitaus subtilere Weise deren Stigmatisierung fort? Und so kündigt Magnus Striet – konsequent – schon die nächste Debattenrunde an: „Warum soll überhaupt zwischen dem Ehesakrament für Mann und Frau und einem Segen für Gleichgeschlechtliche unterschieden werden?“ Freilich kann man sich auch mit einem klugen Kopf selbststigmatisieren und an der institutionellen Wand eine blutige Nase holen (Ja, nur eine blutige Nase, denn der Glaube an das Ehesakrament, den die Evangelischen nicht haben, wird damit nicht in Frage gestellt).

Biblisch klar ist: Das alles entscheidende Weltgericht in der Auferstehung der Toten (Mt 25, 31-46), die wir in diesen Tagen – mit oder ohne Ei – feiern, fragt nicht nach der sexuellen Orientierung. Für die, die „von meinem Vater gesegnet“ (Mt 25, 34) sind, gelten andere Kriterien. Denn „in der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel“ (Mt 22,30). Gesegnete Ostern.