Was gibt es heute?
Doppelesel – oder: Das Antirossgericht

Es gibt nicht nur dunkle, sondern auch schräge Stellen in den biblischen Texten. Eine davon ist die Erzählung vom Einzug Jesu nach Jerusalem. Der konnte auf katholischer Seite so exzessiv gefeiert werden, dass der bei der Zürcher Prozession auf Rädern fortbewegte ‚Palmesel‘ vor 500 Jahren (1522) in der Limmat ertränkt wurde – von Protestanten, versteht sich.

Schräg ist aber schon Folgendes:  Der Ritt nach Jerusalem ist eine dramatische Handlung, die etwas Besonderes, etwas Außeralltägliches gewesen sein muss: Auch damals legte man nicht alle Tage seine Kleider auf die Erde, damit andere nicht die bloße Erde berühren mussten. Dies war eine Geste der Ehrerbietung, wie sie gegenüber außergewöhnlichen Menschen, gegenüber einem König, einem Feldherrn oder einem Vornehmen gezeigt wurde – allerdings auch nur in außeralltäglichen Situationen: bei der Inthronisation eines Königs zum Beispiel (vgl. 2 Kön 9,13). Zu vergleichen ist das Ganze vielleicht mit heutigen Staatsgastbesuchen, wenn der rote Teppich ausgerollt wird.  Auch wurden nicht jeden Tag die Straßen mit Zweigen bestreut oder Blumen beworfen. Das war zum Beispiel Brauch, wenn siegreiche Feldherren oder Rebellen (vgl. 1 Makk 13,51) in Städte oder Tempel einmarschierten. Manchmal sehen wir heute noch in der Tagesschau, dass die Panzer der siegreichen Armee mit Blumen begrüßt werden. Aber war Jesus ein Krieger, ein Staatsgast, ein König?

Schräg ist also, dass Jesus für sich Symbole und Rituale in Anspruch nimmt, die eigentlich anderen zustehen als einem kleinen Handwerkersohn aus Galiläa. Schräger im wahrsten Sinn des Wortes ist aber noch etwas anderes. Anders als in der ähnlichen Erzählung bei Markus, Lukas oder Johannes sitzt Jesus in der Überlieferung vom Matthäus (21, 7) auf zwei Reittieren: „Die Jünger führten die Eselin und das Fohlen zu Jesus, und sie legten die Gewänder auf sie, und er setzte sich auf sie“. Man hat diese merkwürdige Darstellung ganz unterschiedlich zu deuten versucht. Die meisten biblischen Experten sagen: Matthäus ist der Autor der neutestamentlichen Texte, der an der wortwörtlichen Erfüllung alttestamentlich überlieferter Aussagen des Propheten des Sacharja-Buches (9,9) interessiert sei. Wie dort habe auch Matthäus von zwei Tieren gesprochen (Ulrich Luz). Motto: Was zu beweisen war. Andere meinen, Jesus habe sich vielleicht „nacheinander“ (Eduard Schweizer) auf die beiden Esel gesetzt. Motto: Was – als Lösung in der Zeitdimension – plausibel wäre. Könnte Jesus den kleineren als „Fußstütze“ (Joachim Gnilka) benutzt haben? Motto: Was – sachlich – plausibel wäre. Wieder andere sagen, er habe sich nicht auf die Tiere gesetzt, sondern auf die Gewänder – über beide Tiere gelegt, „so dass Jesus wie auf einem breiten Thronsitz reitend eingezogen sei“ (Walter Grundmann). Motto: Schräge Lösung in der Sachdimension. Manche der Bibelwissenschaftler resignieren und sagen, ein solcher Ritt sei „schwer vorstellbar“ und man solle deshalb auch gar nicht versuchen, sich ihn vorzustellen. Motto: Nur nicht hingucken, tabuisieren.

Ich meine dagegen: Das soll man sich durchaus mal vorstellen, auch wenn es einem dabei schwindelig wird! Könnte es nämlich nicht sein, dass die Art des Reitens gerade damit etwas zu tun hat, wie dieser Jesus sich selbst gesehen haben will? Gewaltlos, ja geradezu hilflos: wie ein Vornehmer, aber doch nicht so; wie ein König, aber doch nicht wie ein König; wie ein Feldherr, aber doch nicht …  Wer ohne Pferd und ohne Kriegswagen und zugleich – und nicht hintereinander – auf zwei Eseln – auch noch auf Eseln – reitet und sich wie ein Feldherr als König begrüßen lässt, kann kein Krieger sein wie die römischen und die anderen Feldherren, die auf hohen Rössern sitzen. Dann ist man das Gegenteil davon oder eine Karikatur. Auf zwei – auch noch – gemieteten Eseln reitend, macht man sich doppelt klein, doppelt hilflos, doppelt und dreifach ohnmächtig – macht man sich restlos niedrig.

Und man entlarvt die Helden als Schwindler. Spätestens hier ist an die kritische Frage Pierre Bourdieus (Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992) zu erinnern, was denn einen Papst, einen Präsidenten oder einen Generalsekretär von einem „Größenwahnsinnigen“ unterscheide, „der sich für einen Papst oder einen Generalsekretär oder genauer: für die Kirche, den Staat, die Partei oder die Nation hält“. Ergänze: Feldherr. Bourdieu antwortet, dass man den Papst, Präsidenten oder Generalsekretär (ergänze: Feldherr) „im allgemeinen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf diese Art von ‚legitimem Schwindel‘ […] zuerkennt“. Indem sich Jesus zur Karikatur der Helden macht, demaskiert er sie, entzieht er ihnen die Erhabenheit, macht sich aber auch selbst zum Angriffspunkt. Heldenhaft wird er zum Antihelden. Er gab nicht nur Rätsel auf, Lebensrätsel. Er war auch ein Provokateur und ein ‚Protestant‘, ein Herausrufer, und einer, der für etwas steht und es mit seinem eigenen Leben für-lebt und vor-lebt.

Der, der auf den Eseln ritt, wollte offensichtlich das Übliche unterbrechen, sich vom ‚Denken-wie-üblich‘ lösen, um Neuem Raum zu geben, nicht einer Mode, sondern neuem Leben, das sich am ursprünglichen Gotteswillen orientiert. Der Esel steht auch dafür. Er ist zwar nicht das Urvieh, aber er ist das königliche Reittier der frühen Zeit, wie es im Buch steht – im Buch Genesis (49,11). Und der doppelte Esel unterstreicht eben, dass es seinem Reiter um eine Lockerungsübung ging, um eine Bildzerstörung, damit das Neue aus dem Ursprung Freiraum erhält: das ‚Absolute‘. Es ist das, was sich ablöst (lat. ab = ab; solvere = lösen). Es geht um „das, was dazu neigt, seine Bindung an bestehende Kontexte zu lockern“ (Hent de Vries, in: Ders. und Lawrence Sullivan, Hg., Political Theologies 2006, 6). Dieser merkwürdige, in der Tat merk-würdige Reiter sitzt und liegt und steht für diesen absoluten Gotteswillen,  ließ sich schließlich dafür töten, und zwar in höchst brutaler Weise.

Palmsonntag ist nichts für Kinder, die wetteifern, wessen Palmspitze höher ragt. Ab Palmsonntag spitzt sich etwas anderes zu. Auch für diejenigen, die meinen, die sogen. ‚Pläne Gottes‘ ganz genau zu kennen.