Was gibt es heute? Schwarzer Adel – oder das Liniengericht
Rituale sind beliebt, auch und gerade sogenannte Übergangsrituale von der Geburt bis zum Tod. Religionen halten eine Fülle von „Montageplänen“ vor, nach denen die Bausteine von Ritualen zusammengesetzt sind: Materie, Sprache, Klang, Bewegung (Michael Oppitz). Kirchen sind Ritualspeicher. Wenn das katholische Ritual der Weihe stattfindet, d.h. der Priesterweihe, erst recht der Bischofsweihe, aber auch schon der Diakonatsweihe, sind die Kirchenbänke voll besetzt. Der symbolische Aufwand, den die Kirche dafür betreibt, ist höher als bei der Trauung, bei der sich zwei Menschen mit- und aneinander binden, freilich auch an die Institution. In der Weihe verschreiben sich Menschen nur und ganz der kirchlichen Institution, keiner leibhaftigen Person.
Anstelle des von anderen Ritualforschern betonten „zeitlichen Übergangs“ geht der am 23. Januar 2002 verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu der „sozialen Funktion des Rituals und der sozialen Bedeutung der Linie oder Grenze, die das Ritual zu überschreiten bzw. zu übertreten gestattet“, nach (Pierre Bourdieu, Einsetzungsriten, 1990). Dabei hebt er „als das eigentlich Wichtige die Linie“ hervor, die für ihn eine – dann in zeitlicher Hinsicht doch – dauerhafte Trennung markiert. Der „ganz wesentliche Effekt des Ritus“ der Einsetzung ist für ihn „die Trennung derer, die ihn durchlaufen haben, nicht etwa von denen, die ihn noch nicht durchlaufen haben, sondern von denen, die ihn unter gar keinen Umständen durchlaufen werden“. Riten, die, von Ausnahmen abgesehen, von allen irgendwie im Laufe ihres Lebens an den Übergängen sogenannter normativer Lebensereignisse vollzogen werden (Geburt, Einschulung, Pubertät, Verrentung, Tod), interessieren ihn nicht, sofern sie nur ein allgemeines Vorher und Nachher markieren. Auch die semantische Ausweitung von ‚Initiation‘ auf mehr oder weniger alltägliche Verhaltensweisen, die Mireille Schneyder etwa beim Beginn einer Buchlektüre beobachtet hat, würde Bourdieu wohl nicht mitmachen. So interessiert ihn an der Unterscheidung z.B. von noch nicht beschnittenen von beschnittenen Kindern bzw. Erwachsenen – im Blick auf die Mitgliedschaftsbedingungen ein Konfliktthema von höchster Relevanz auch in der frühen Geschichte des Christentums (Apostelkonvent 48/49 n. Chr.) – allein „die Trennung all derer, die der Beschneidung unterzogen werden, also Jungen und Männer, Kinder wie Erwachsene, von all denen, die das nicht werden, das heißt Mädchen und Frauen“. Das Beschneidungsritual, das anscheinend nur vorübergehend Menschen trennt, schreibt latent eine andere Trennung mit „festschreibender Wirkung“ zu. Es bestätigt eine Trennung, die zur Gesamtheit der sozialen Ordnung gehört, indem sie symbolisch immer wieder neu reproduziert und in Kraft gesetzt, instituiert wird: „Instituieren, einsetzen, heißt in diesem Falle, einen Zustand, eine bestehende Ordnung bestätigen, sie festschreiben und heiligen, genau wie eine Konstituierung im politisch-rechtlichen Sinne“.
Bourdieu interessiert die Überschreitung der Linie mittels eines Rituals, das „noch aus dem kleinsten, schwächsten, kurz, weibischsten Mann einen vollgültigen Mann“ macht, aus dem Knappen einen Ritter, aus der Abgeordneten eine Präsidentin, aus einem Zettel eine Urkunde usw. Insofern würde er sich mehr für die römisch-katholische Theologie und Praxis der (heute in die drei Stufen Diakon, Priester, Bischof gegliederten) Weihe als für die Theologie und Praxis von Taufe, Firmung bzw. Konfirmation interessieren. Denn in der sakramentalen Weihe werden vier Linien gezogen, die auf synodalen und anderen Wegen derzeit heiß umkämpft sind. Die erste Linie trennt im christlichen Feld hin zu denjenigen, welche die Ordination nicht als Sakrament verstehen. Zweitens begründet im katholischen Feld die ‚Ordination‘ der einen (Klerus) die Subordination der anderen (Laien). Dabei wird drittens eine differenziertere „Ordnungsgestalt des Geschlechterarrangements“ reproduziert, d.h. eine „Geschlechterhierarchie“ mit Frauen als „Minderlaien“ (Norbert Lüdecke). Viertens ist das Stockwerk, das die Laien vom Klerus fernhält, selbst wieder durch Linien der Über- und Unterordnung (von Bischöfen über Priester und Diakone) strukturiert. Sollten Frauen die Stockwerkslinie überschreiten, indem sie zu Diakoninnen geweiht werden, sind sie drin: gleichsam im Nest des schwarzen Adels. Wer wollte ihnen dann die Priester- und schließlich die Bischofsweihe verwehren? Aus kirchenoffizieller Sicht käme dies auch der Verletzung einer „göttlichen Planvorgabe“ gleich, der sich die Kirche verpflichtet sieht, so Norbert Lüdecke (Mehr Geschlecht als Recht?, in: Sigrid Eder/Irmtraud Fischer (Hg.), „… männlich und weiblich schuf er sie …“ Gen 1,27, Innsbruck 2008).
Nicht nur in der römisch-katholischen Kirche haben die Kämpfe um die Frauen(trennungs)fragen an Heftigkeit zugenommen. So soll Papst Franziskus einer Schwester, Katharina Ganz, „stellvertretend für alle Ordensoberinnen“ geraten haben, sie „könnten sich eine ‚andere Kirche‘ machen, wenn Sie mit den Zulassungsbedingungen zum Weiheamt nicht einverstanden seien“ (FAZ vom 13.09.2019). Feststellbar ist, dass sich Konflikte um genau diese Linie auch in anderen christlichen Kirchen ausmachen lassen, so in der Neuapostolischen Kirche, bei den Siebenten-Tags-Adventisten oder bei der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie in verschiedenen Mitgliedskirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Dort sind Kirchen reformierter, lutherischer, unierter, methodistischer und vorreformatorischer Traditionen ohne einheitliche Bekenntnisgrundlage kartellartig assoziiert. Auch die Anglikanischen Kirchen kennen basale Konflikte beim Thema der Koppelung von Frauen und Amt. Während in der Kirche von England Frauen (erst) seit 1994 zu Priesterinnen geweiht werden und die erste Bischöfin 2015 geweiht wurde, gilt für die Kirchen des konservativen anglikanischen GAFCON-Verbunds: „Einig sind sich diese Kirchen nur in der Ablehnung von Frauen im Bischofsamt“.
Als eine weitere Linie erweist sich die Markierung einer Klassenlinie mittels der Verfügung über Bildungskapital, wie von einigen reformierten Theologen gefordert und für die reformierte Tradition des „gelehrten Pfarrherren“ mit „Standesbewusstsein“ typisch. Neben solchen Klassenlinien, jenen hierarchischen Linien, sakramentalen Linien, Geschlechterlinien und asketischen Linien (Zölibat) wie in der römisch-katholischen Kirche und in den orthodoxen Kirchen stoßen wir auf weitere Linien und Linien-Konflikte, etwa bei der Kopplung von Ämtern und Personen mit homosexueller Orientierung. Abgesehen von der römisch-katholischen Kirche mit ihrer massiven Stigmatisierung der Homosexualität ist diese Linie insbesondere in evangelischen Freikirchen und in den Anglikanischen Kirchen umkämpft. Dort wird vorgeführt, wie der Kampf um die bisherigen Linien, welche die Ordnung der katholischen Kirche profilieren, zu Spalten werden. Das Dilemma ist: Ob die bisherigen Linien überwunden oder bewahrt werden: Abspaltungen drohen.