Was gibt es heute?
Bene dicere – oder das Protokollgericht
Es mag sein, dass Benedikt nicht immer Gutes sagt, obwohl der Name es erwarten lässt: bene dicere. Es mag ebenfalls sein, dass Benedikt lügt, gut oder schlecht. Alle Katholiken lügen, alle Katholikinnen auch, weil alle Menschen lügen, freilich nicht immer und überall. Wer dem widerspricht, werfe sprungbereit den ersten Stein. Es hätte ja auch das Protokoll der Sitzung lügen können, an der Joseph Ratzinger angeblich abwesend und nun doch anwesend war. Können Protokolle lügen? Ja, das können sie. Ich jedenfalls kenne lügende Sitzungsprotokolle.
Nur Juristen glauben, dass Protokolle die Wahrheit sagen. Und man muss kein Sozialwissenschaftler sein, um zu erkennen, dass diese Aussage ebenfalls gelogen ist. Wer kennt keine Sitzung, in der jemand redet und redet und anschließend – mit Zustimmung der Anwesenden im Blick auf Abwesende – sagt: ‚Das gehört aber nicht ins Protokoll!‘? Protokolle filtern Gesagtes. Sie machen zwar Ausgesprochenes nicht ungesagt, aber sie machen es sozial unwirksam, indem sie es wie etwas Ungesagtes behandeln. Und sie verwandeln Gesprochenes in Schriftliches und filtern auch, wie, auf welche Art und Weise etwas gesagt wurde – ‚Protokollstil‘ eben. Und sie filtern Gesagtes, indem sie Themen einerseits und Sachverhalte andererseits trennen. Sie protokollieren, dass z. B. über Exhibitionismus ausführlich gesprochen wurde (Themen), aber nicht, wer von den Anwesenden schon einmal damit konfrontiert war (Sachverhalt).
Lügen müssen keine Aussagen sein. Auch durch Nicht-Aussagen (etwa in Protokollen) kann die Wahrheit verheimlicht werden. Manchmal enthalten Protokolle Falschaussagen – Lügen? Es könnte sich auch der Protokollant oder die Protokollantin geirrt haben. Dann enthalten Protokolle zwar Unwahres, aber keine Lügen. Oft sei es „ganz schwer zu entscheiden“, ob die Verhüllung der Wahrheit aus Irrtum, „aus professioneller Kaltblütigkeit, Angst, Trägheit, Vorsicht, Höflichkeit, Mitgefühl, Liebe oder aus Rache erfolgt“, schreibt Robert Hettlage, ehemals Professor für Soziologie an der Uni Regensburg, in der Festschrift für Arnold Zingerle (Lügen im Alltag, in: Nach der kulturalistischen Wende, Berlin 2010, 140). Hettlage meint sogar: „Wir alle lügen lustvoll mit Hilfe des Friseurs und des Schneiders – und in späteren Jahren auch mit Hilfe des Zahnarztes oder immer häufiger durch die Künste des Schönheitschirurgen“. Wir alle? Hettlage sollte es eigentlich wissen, er ist Jahrgang 1943. Als er dies schrieb, gab es bereits die Allensbacher Erkenntnis, dass nicht einmal 50 Prozent der deutschen Bevölkerung Ärzten, Pfarrer, Richtern vertrauen würden, dass sie die Wahrheit sagen.
Meine Organisationserfahrung kennt noch andere Gründe dafür, dass Protokolle lügen können, gibt es doch Sitzungen, in denen Personen als anwesend geführt werden, obwohl sie abwesend waren. Aufgefordert, kurzfristige, bloß anfängliche Anwesenheit mit der eigenen Unterschrift zu quittieren, damit die Sitzungsmaschine als beschlussfähig starten, arbeiten, enden und mit verbindlichen Entscheidungen protokolliert werden kann, notiert das Protokoll keine Abwesenheit. Für Jurist*innen oder Bürokrat*innen mag dann Abwesenheit als Anwesenheit gelten. Sie ignorieren dann die reale Praxis, irren sich, weil sie Protokollen glauben. Wer kennt schon die Vielfalt der Protokollkulturen in unterschiedlichen Organisationen?
Was heißt schon ‚Anwesenheit‘? Sitzungen sind organisierte Interaktionssysteme, und diese „schließen alles ein, was als anwesend behandelt werden kann, und können gegebenenfalls unter Anwesenden darüber entscheiden, was als anwesend zu behandeln ist und was nicht“, so Luhmann (Soziale Systeme 1984, 560). Folgt man dieser soziologischen Aussage, ist also nur anwesend, was von den Anwesenden als anwesend bestimmt wird. Wie die Anwesenden registrieren auch Protokolle nicht alles unter den Anwesenden (dass etwa jemand ungeduscht, ungekämmt oder tätowiert ist). Nicht jedes Räuspern, Lachen, Schweigen wird registriert, kommuniziert, protokolliert. Wer kommuniziert und protokolliert schon die Kleidung der Anwesenden, obwohl sie registriert wird, oder, mit welcher Vorsicht jemand auswählt, was er sagt?
Meine Organisationserfahrung sagt mir zudem, dass physische Anwesenheit noch nicht für psychische Präsenz stehen muss. Körper und Bewusstsein stehen zwar miteinander in Beziehung, operieren aber selbstständig. Ich kenne sogar Sitzungen, in denen körperlich Anwesende körperlich abwesend sind, weil sie sichtbar und hörbar schlafen. Sie schlafen zwar und schweigen, aber lügen nicht. Einige Katholik*innen wissen um einen – inzwischen entschlafenen – Bischof und Kardinal, der oft in Sitzungen für alle anderen wahrnehmbar eingeschlafen war, aber – oh Wunder – immer hellwach wurde, wenn es um für ihn relevante Themen oder gar Sachverhalte ging. Abwesend war er anwesend, und anwesend war er abwesend. Peinlich für alle Anwesenden … zumal dann, wenn sie mentale Absenz unterstellten und nicht mehr das sagten, was sich schickt, sondern das, was sie meinten.
Meine Organisationserfahrung sagt mir schließlich, dass physische und psychische Anwesenheit noch nicht für soziale Präsenz stehen muss. Physisch Anwesende sind dann hellwach, obwohl sie erkennbar müde sind, aber schweigen. Sie sind gewissermaßen soziale Schläfer, indem sie nicht kommunizieren und auch nicht kommunizieren, dass sie nichts sagen. Oder sie sprechen zu ausgewählten Tagesordnungspunkten und verlassen – physisch, psychisch und sozial – die Sitzung bei anderen Tagesordnungspunkten. Sie sind jetzt anwesend, dann abwesend – das eine mit, das andere ohne Protokollnotiz. Für Juristen oder Bürokraten mag dann halbe Abwesenheit als volle Anwesenheit gelten.
Der berühmte Satz Erving Goffmans: „Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muss seinen Körper dabei haben“, stimmt zwar, er stimmt aber auch nicht. In Protokollen kann sich ein Individuum ohne Körper befinden, weil der Körper woanders hingegangen ist und das Individuum mitgenommen hat, ohne dass es im Protokoll registriert wurde, obwohl es die damals Zurückgebliebenen registriert haben, doch die heutigen Protokollgläubigen nicht. Benedikt lügt? Wer weiß. Benedikt lügt weiter, indem er sich zunehmend in ein Lügengespinst verstrickt?
Die Tragik ist grundlegender: Ein Verlust an Personvertrauen, Institutionsvertrauen und schließlich klerikalem Professionsvertrauen. Obwohl ein Protokoll lügen kann, glaubt man, ihm mehr vertrauen zu können, als jenem Papst und seiner 82seitigen Stellungnahme, die seine Unterschrift trägt. Und man vertraut dem Protokoll immer noch mehr als dem inzwischen vorgenommenen Eingeständnis, versehentlich an einer wichtigen Stelle eine falsche Aussage gemacht zu haben. „Nicht aus böser Absicht heraus“, versteht sich, sondern aus – ‚redaktionell bearbeitetem‘ – Selbstschutz. Dass solcher Selbstschutz zu wiederholten Schädigungen (der Missbrauchsopfer) führt – darauf weisen Opfervertreter permanent hin.
Übrigens: Wir kennen die redaktionelle Hinterbühne nicht, auf der die römische Täuschung angeblich produziert wurde. Und wir wissen nicht, ob sie eine Selbsttäuschung oder Fremdtäuschung ist oder beides zusammen.