Was gibt es heute?
Das Zwei-Päpste-Gericht – oder: Ja, das kann der Papst

In einem Tweet am Dienstag, dem 14. Juli 2020, hat Papst Franziskus mal wieder über den richtenden Gott geschrieben: „Am Tag des Jüngsten Gerichts werden wir nicht nach unseren Ideen gerichtet werden, sondern nach dem Mitleid, das wir anderen erwiesen haben.“ Der Papst setzt den Akzent (1) auf die Taten, die aus Mitleid folgen, weniger (2) auf das Jüngste Gericht, vor dem ja Christen „keine Angst“ haben müssten.

Zu (1): Hängt es mit der argentinischen Herkunft des Papstes zusammen, dass er Caritas auf Mitleidsregungen zurückführt und damit als ein Interaktionsgeschehen betrachtet? Caritas ist in Deutschland weitgehend Organisation, immer weniger Interaktion; besser: Interaktion durch Organisation. Sie hat über 650.000 Hauptamtliche – überwältigend viele Frauen darunter – und ist damit der größte nichtstaatliche Arbeitgeber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Was heißt da ‚Mitleid‘? Würde ‚Mitgefühl‘ nicht reichen? Außerdem: Die Mitarbeitenden der Caritas mögen auch emotionale, moralische und religiöse Motive haben (s. Michael N. Ebertz/Lucia Segler: Spiritualitäten als Ressource, Würzburg 2016), aber sie wollen auch Geld verdienen und sind angehalten zu helfen – mit und ohne Mitleid. Sie sind Profis, die gerade ihre Gefühle im Zaum halten müssen, um Profis zu bleiben. Sind die Mitarbeitenden der verbandlichen Caritas in Deutschland vielleicht deshalb so wenig geschätzt seitens des Klerus? Wieso wird die professionelle, organisationelle und ökonomische Dimension vom kirchlichen Spitzenpersonal immer und immer wieder ausgeblendet? Die „Verneinung des Ökonomischen“ (Pierre Bourdieu) bei gleichzeitigen Finanzskandalen auf vielen Ebenen ist ein merkwürdig widersprüchliches Kennzeichen dieser hierarchischen und verrechtlichten Kirche. 

Zu (2): Ein anderer Widerspruch ist der Verweis auf das jenseitige Gericht, vor dem Christen keine Angst haben müssten. Wieso eigentlich nicht? Diese Angst hat die Kirche jahrhundertelang gepredigt und erst in den letzten Jahrzehnten zurückgenommen (s. Michael N. Ebertz, Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung, Ostfildern 2004). Haben tote Christ*innen heutzutage keine Probleme mehr? Ist das Jenseits ein göttlicher Wohlfahrtsstaat geworden, der – wie der irdische – seine Politik des Strafens gemildert und die Todesstrafe abgeschafft hat? Ist die überweltliche Wirklichkeit vielleicht doch der weltlichen näher als gedacht? Wie auf Erden so im Himmel? Auch der Papst hat der Todesstrafe nun endlich die theologische Anerkennung entzogen, indem er sie aus dem Weltkatechismus gestrichen hat. Ja, das kann der Papst, aber er macht –  leider – nicht alles, was er könnte. Die Frauen lässt er weiterleiden, auch die Priester, die immer weniger werden, zu Managern werden und ihre erste Liebe, die Seelsorge an Einzelpersonen, vergessen müssen. Dafür wird der ganze Pastoralbetrieb umgebaut – jede Diözese macht das auf eigene Art. Die sogenannten Gläubigen werde zu Versuchskaninchen – es sind ja nur Getaufte, keine Kleriker, und sie brauchen vor dem Jenseits keine Angst mehr zu haben, sagt der Papst. Die verbalen und nonverbalen Inszenierungen des jenseitigen Gewaltgeschehens der Kirche will er nicht mehr in Erinnerung bringen, dieser ‚Gott mit uns‘ hat sich ‚mit uns‘ gewandelt, denn auch unsere Sensibilität für Gewalt hat sich gesteigert. Wir können an einen Gott, der Gewalt liebt, nicht mehr glauben – der Papst auch nicht mehr. Ja, auch das kann der Papst, wenn er will, aber er will leider nicht alles, was er kann. Die Hölle für die Christen – ich hoffe auch: für die Christinnen – kann er abschaffen, aber was ist mit der Hölle für die Nicht-Christ*innen? Die Hölle, das sind die Anderen?

Und was ist mit denjenigen Christ*innen, die gar keine Christ*innen sind? Wie bitte? Der junge Theologe Joseph Ratzinger hat diese merkwürdig hybriden Figuren schon 1958 die „neuen Heiden“ in der Kirche genannt (Die neuen Heiden und die Kirche, in: Hochland 51/1958). Werden gar diese ‚zwittrigen‘ Typen auf den höllischen Jenseitsstatus verwiesen, also vielleicht die Mehrheit der Kirchenmitglieder heute und hierzulande? Schon damals zuckte der spätere Papst und heute emeritierte Bischof von Rom vor einer solchen Neuverteilung des Jenseitsschicksals zurück. Daran „hindert uns heute einfach unsere Humanität. Wir können nicht glauben, dass der Mensch neben uns, der ein prächtiger, hilfsbereiter und gütiger Mensch ist, in die Hölle wandern wird, weil er kein praktizierender Katholik ist“.

Lerne: Im Widerspruch zur kirchlichen Tradition kann man durchaus innerkirchliche Karriere machen und Topstellen erreichen. Weshalb lässt sich aus solchen Widersprüchen, frage ich mich (und andere), nicht ebenfalls eine Tradition machen? Motto: Einiges aus der katholischen Tradition zu glauben – daran ‚hindert uns heute einfach unsere Humanität‘…