Was gibt es heute?
Dies solis – oder: das Urlaubsgericht

Vor 1700 Jahren hat Kaiser Konstantin den Sonntag geheiligt, indem er ihn per Gesetz zum Ruhetag erklärte. Am verehrungswürdigen Tag der Sonne (venerabili die solis) soll alle Arbeit der Gewerbetreibenden, Richter und der Stadtbevölkerung ruhen. So ähnlich steht es auch heute noch im Grundgesetz, das freilich die Landbevölkerung nicht ausschließt und nicht dem Schutz des Sonnengottes dient. Die Sonntage sind als „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ staatlich geschützt. Die Kirchen haben die ‚seelische Erhebung‘ in ihrem Sinn interpretiert, diese zunächst in den Gottesdiensten zu suchen. Allerdings mussten sie erkennen, dass sich immer mehr Menschen auf eine andere Weise erheben und ihren Körper gleich mitnahmen, um etwa auf Berge zu klettern, wo bekanntlich die Götter wohnen.

Bereits anfangs des 20. Jahrhunderts hatte der 1921 verstorbene Gründer des Deutschen Caritasverbandes, Lorenz Werthmann, „die ausgeartete Sports- und Wanderbewegung“ beklagt, die „den Sohn oder die Tochter den ganzen Sonntag vom Elternhaus fernhält, abgesehen von den religiösen und sittlichen Bedenken“. Dabei nimmt er die zahlreichen Vereine, Bünde und Bewegungen in den Blick, die er als säkulare Konkurrenten der Kirche um die Sonntagsgestaltung wahrnimmt und mit ihren Versammlungen, Ausflügen und „sonstigen Vergnügungen“ dazu beitragen, „die Kinder der Familie zu oft und zu lange zu entziehen und so die Familienzusammengehörigkeit schwächen und lähmen“ (Lorenz Werthmann, Reden und Aufsätze, Freiburg 1958, 262).

Auch andere Stimmen – so die Mitglieder der Freien Vereinigung für Seelsorge (Katholischer Wochenendführer, Freiburg 1930, 21f) – beklagen die wachsende Individualisierung in den Familien und ihren drohenden Verlust an Kohäsion:

„Mit der alten Familienherrlichkeit darf es nicht allseitig aus sein! […] Wenigstens einen Tag in der Woche muß es geben, wo die Kinder sich sagen können: ‚Heute ist der Vater wirklich unser Vater. Heute merken wir so ganz: wir haben eine rechte Mutter‘. Wo man sich eines bescheidenen Glückes in einer warmen Gemeinschaft zu freuen versteht, womöglich sich um einen Tisch setzen kann, auf welchem das Essen der Hausfrau steht.“

Nicht nur der Wandel des Verhältnisses von Eltern und Kindern kündigt sich damit an, sondern auch das Verhältnis der Familie zur Kirche:

„In den letzten Jahren hat der Ausflugsverkehr und der Sport an den Samstagabenden, an Sonn- und Feiertagen einen gewaltigen Umfang angenommen. Gesellschaften, Vereine aller Art, Familien und Schulen nehmen daran teil. Extrafahrten auf Eisenbahnen und Schiffen, der täglich sich steigernde Auto- und Flugverkehr erleichtern derartige Erholungs- und Vergnügungsfahrten. Dass dadurch die Heilighaltung der Sonn- und Feiertage äußerst gefährdet wird, ist nicht zu verkennen. Viele Ausflügler und Sportteilnehmer setzen sich, das lehrt die Erfahrung, freventlich über die Erfüllung ihrer Sonntagspflicht hinweg“.

Die Klage darüber, dass eine zunehmende – so wörtlich – „Wochenendbewegung“, die Familien von der Wohnraumnähe in die Ferne und vom Heiligen ins Vergnügen mobilisiert, von den angestammten Räumen der Kirchen weg in die Fremde führt, sie der christlichen Zeitordnung entfremdet und den Kommunikationen der kirchlichen Autoritäten (und damit ihrer sozialen Kontrolle) entzieht, ist gar nicht so jung, wenn man bedenkt, dass wir hier einen fast einhundert Jahre alten Text vor uns haben, einen Erzbischöflicher Erlass vom 19. 9. 1927 über „Seelsorgliche Maßnahmen aus Anlaß der zunehmenden Wochenendbewegung“ (in: Wilhelm Corsten, Hg., Sammlung kirchlicher Erlasse. Verordnungen und Bekanntmachungen für die Erzdiözese Köln, Köln 1929, 625-626).

Diese Klage zielt zunächst auf eine horizontale Konkurrenz um das Zeitbudget, weniger auf eine vertikale Konkurrenz um die Vermittlung von Heilsgütern und Heilswahrheiten anderer Religionen, die, von den „verkappten Religionen“ (Carl Christian Bry) der weltanschaulichen Bewegungen der 1920er Jahre abgesehen, erst seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die gesellschaftliche Bühne betreten und ein Erstaunen über die ‚Wiederkehr der Religion‘ auslösten. Jene Klage über eine ‚entkirchlichte’ Sonntags-, weil Wochenenddramaturgie durch eine wachsende säkulare Konkurrenz gehört seitdem zu den Verbalritualen kirchlicher Verantwortungsträger und bezeugt den wachsenden Kampf gesellschaftlicher Akteure um die Zuständigkeit für die zeitliche gesellschaftliche Ordnung und ihre Sinngebung. Nicht nur in Predigten und Hirtenbriefen, selbst in jenem Reiseführer – „Katholischer Wochenendführer“ – stößt man auf sie als Bestandteil der Großstadtkritik:

„Fast durch jede Stadt klingt Sonntags[!] mit dem Glockengeläute eine wehmütige Sehnsucht: Die Stadt ist auf den Sonntag nicht mehr eingestellt […] Der Mensch muss seine Seele wieder finden lernen, die er in der Woche so leicht verliert […] Sonntags […] über der Woche muß etwas viel Grundlegenderes stehen; über ihrem Anfang muß als Morgenrot das Gotteswort leuchten: Du sollst an einen Gott glauben! Du sollst anbeten! Ziel will nicht ein aufgeputzter, freigelassener Mensch sein, noch nicht einmal der geheiligte Tag als solcher, sondern der g e h e i l i g t e  M e n s c h!“

Georg Simmel (1858-1918), der anfangs des 20. Jahrhunderts dem wachsenden Alpentourismus kritisierte, konnte den Bergen Erhabenes abgewinnen. Wenn man seinen Ausführungen folgt, lässt sich vermuten, dass die Klage der Geistlichen vielleicht doch mehr als eine Kritik war, die der Erfahrung bloß horizontaler Konkurrenz um das Zeitbudget ihrer Klientel entsprang. Ist die Sehnsucht nach der Sonne an Sonntagen nicht vielleicht doch verkappter Ausdruck einer neuen religiösen Gefolgschaft, die dem alten Sonnengott dient? Und die Klage der Geistlichen Kritik am Wachstum der konkurrierenden Sonnenreligion? Die Berge waren für Simmel ambivalente Symbole der Transzendenzerfahrung. „Die Alpen“, so heißt ein Aufsatz von ihm, wirkten zwar „einerseits als das Chaos, als die ungefüge Masse des Gestaltlosen, das nur zufällig und ohne eigenen Formsinn einen Umriß bekommen hat“. Man fühle „hier das Irdische als solches in seiner ungeheuren Wucht, das noch ganz fern von allem Leben und Eigenbedeutung der Form ist“. Andererseits seien „die übergroß aufsteigenden Felsen, die durchsichtigen und schimmernden Eishänge, der Schnee der Gipfel, der keine Beziehung mehr zu den Niederungen der Erde hat […] Symbole des Transzendenten, den seelischen Blick aufführend, wo über dem mit höchster Gefahr noch Erreichbaren das liegt, zu dem keine bloße Willenskraft mehr hinauflangt“. Doch „erst wenn nichts als Himmel über ihnen ist, weisen sie grenzenlos und ununterbrochen in das Überirdische hinauf und können einer anderen Ordnung als der der Erde angehören“.

Im Schauen von Sonne und Himmel sah Georg Simmel übrigens den Ur-Sprung aller Religion. Schöne Sonntage, erhabene Ur-Laube kann ich da nur sagen – und: erfüllende Sonntagspflicht.