Was gibt es heute?
Melolontha – oder: Das Staatsmagazin-Gericht
Maikäferplagen sind immer noch nicht vorbei. Vor mehr als 500 Jahren (1478/79) musste der Magistrat von Bern seine Ohnmacht bei der Bekämpfung der Massenvermehrung dieser Insekten erfahren, so dass er – wie wir das bis heute so machen, wenn es um Kontingenzbewältigung geht – die Kirche um Mithilfe bat. Der Bischof von Lausanne eröffnete daraufhin einen Gerichtsprozess, durch den die Engerlinge, damals noch ‚Inger‘ genannt, verurteilt und verdammt wurden. Bekanntlich wurde die rituelle Bekämpfung von Naturereignissen – man denke etwa an Blitz und Donner – zunehmend durch andere Mächte abgelöst, die dabei, wie die Physik, die den Blitzableiter erfand, die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz einfach bleiben ließ (auch ‚unterlassen‘ ist, wie ‚dulden‘ ein Handeln) und ganz und gar in die Immanenz eintauchte. So auch die Medizin im Falle der Maikäfer. Die riet, den gemeinen Maikäfer (melolontha) einfach zu essen. Suppenförmig „mit Vergnügen“. Statt Exklusion durch Verurteilung und Verdammung also: Totalinklusion durch Inkorporation. So wurde aus einem Subjekt des Kirchengerichts ein Objekt des Küchengerichts.
Kein geringerer als Dr. Schneider empfahl im „Magazin für Staatsarzneikunde“ von 1844 als „ein vortreffliches und kräftiges Nahrungsmittel“ die „Maikäfersuppen“. Denn nicht nur die Hühner würden ja mit ihnen „ohne Nachtheil satt gefüttert“, auch „unsere Studenten essen sie nach abgerissenen Füssen roh, ganz wie sie sind“, schreibt er. Die Vorfahren hätten sie in Honig eingemacht, und inzwischen seien sie „in vielen Conditoreien“ ja „überzuckert zu haben, und man isst sie candirt an Tafeln zum Nachtische“. Und so geht die Suppe, die der Mediziner empfiehlt:
„Die Käfer, von welchen man 30 Stück auf eine Person rechnet, werden, so wie sie gefangen sind, gewaschen, dann ganz in einem Mörser gestossen, in heisser Butter hart geröstet und in Fleischbrühe aufgekocht, fein durchgeseiht und über geröstete Semmelabschnitte angerichtet“. Die Bouillon werde „durch die Kraft der Maikäfer vorzüglich, und eine Maikäfersuppe, gut bereitet, ist schmackhafter, besser und kräftiger, als eine Krebssuppe“. Unser Arzt entpuppte sich auch als Ästhet, wenn er weiterschreibt: „ihr Geruch ist angenehm, ihre Farbe ist bräunlich, wie die der Maikäferflügel […] Sehen sie ekelhafter aus als die Schildkröten, aus welche die so berühmten und theuren Kraftsuppen bereitet werden?“
Heißt ist der folgende Tipp: Wolle man seine Gäste „täuschen“, weil die sich, beladen mit „Vorurtheilen“, vor dem Insektenfraß ekeln und eine standesgemäßere Vorspeise erwarten würden, empfiehlt der Staatsarzt, der Maikäfersuppe einige Krebse hinzuzufügen: „ihre Farbe wird dann roth, und die Suppe passirt für die vorzüglichste Krebssuppe, besonders wenn sich in derselben noch einige Krebsschwänzchen vorfinden“. Und er bezeugt – immer noch im ‚Magazin für Staatsarzneikunde‘: „Alle Gäste, welche bei mir, ohne es zu wissen und ohne es zu erfahren, Maikäfersuppen genossen haben, verlangten doppelte, ja dreifache Portionen!“.
„Maikäfer, flieg“ – laut Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach von 1999 kennen zwei Drittel der deutschen Bevölkerung das bis heute rätselhafte und – für Kinder „Angstlust“ (Barbara Book) machende – Maikäfer-Lied, das auf die gleiche, lieblich-beruhigende Melodie wie „Schlaf, Kindlein schlaf“ von 1605 gesungen wird. Woher, wer hat ihnen das Maikäfer-Lied beigebracht? Laut Lotta Wieden (in der FAZ vom 12.04.2015) antworten einige: „Die Oma, die es in der Küche sang“.