Was gibt es heute?
Mythos – oder: das Memo-Gericht

Die These von der Privatisierung des Religiösen, der immer mal wieder widersprochen wurde, ist unverbrüchlich mit dem Namen eines meiner soziologischen Lehrer an der Universität Konstanz verbunden: Thomas Luckmann. Dessen Soziologie und Religionssoziologie ließ sich ganz zentral von der Frage leiten, wie „das Schicksal der Person in der modernen Gesellschaft zu begreifen“ ist. Von Luckmann, 1927 in Jugoslawien (Slowenien) geboren, seit 1966 bis zu seiner Emeritierung (1994) an den Universitäten Frankfurt und Konstanz lehrend und vor fünf Jahren, am 10. Mai 2016, in seiner Kärntner Wahlheimat gestorben, ging eine kleine Revolution in der Religionssoziologie aus. Zwar seien „die Kirchen religiöse Institutionen, die von der Soziologie sorgfältig untersucht werden müssen“; denn sie konnten die „Geschichte der abendländischen Zivilisation“ so durchdringen, dass sie bis in die frühe Neuzeit die „Identität zwischen Kirche und Religion“ herbeigeführt haben. Aber die Religionssoziologie solle ihren Gegenstand nicht allein und primär auf die – auch noch „staatlich geförderte“ –„institutionelle Spezialisierung des Religiösen in der Organisationsform Kirche“ konzentrieren. Sie solle nicht „die ekklesiastische Anschauungsweise unkritisch“ übernehmen. Sie solle sich nicht  mit einer historisch verkürzten, theoretisch verengten und konfessionell fragmentierten Marktforschung im Dienst der Konfessionskirchen zufriedenzugeben.

Die Religionssoziologie dürfe nicht ihr – so Luckmann – „wichtigstes Problem“ vernachlässigen, nämlich sich mit den „gesellschaftlich verfestigten symbolischen Wirklichkeiten“ zu befassen, „die dem täglichen Leben des einzelnen einen übergeordneten Sinn geben und den Krisen des persönlichen Daseins eine transzendente Legitimierung verleihen“. Diese Funktion könnten die Kirchen gar nicht mehr erfüllen; denn ihr Schrumpfen und damit das „Schrumpfen der Kirchlichkeit“ sei „in der wachsenden Bedeutungslosigkeit der kirchlichen Werte für die sinnvolle Integration des Alltagslebens der typisch modernen Person verankert“. Was immer auch sonst noch die Bezeichnung ‚Person‘ meinen kann, Luckmann ging es dabei um das „Zentrum subjektiver Relevanzstrukturen und biographischer Bedeutungshorizonte“. Und das Alltagsleben verlangt von den Individuen heute, sich in verschiedene – spezialisierte und anonyme – Rollen hineinzubegeben, die zwar für die jeweiligen Institutionen zweckhaft sein mögen, aber die Person weitgehend ignorieren und „untereinander kaum in einem subjektiv einleuchtenden Sinnzusammenhang stehen“.

Zur Erinnerung: Luckmanns Diagnosen sind über 60 Jahre alt: Siehe Thomas Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963. Dieser Text basiert auf Thomas LuckmannNeuere Schriften zur Religionssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1960, 315-326. Er wurde dann modifiziert, erweitert und übersetzt: Thomas Luckmann, The Invisible Religion: The Problem of Religion in Modern Society, New York 1967 (s. dann Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, mit einem Nachtrag von Thomas Luckmann und einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt 1991).

Manche haben es bis heute noch nicht kapiert und denken, die multiple Krise der Kirchen sei erst neueren Datums. Und manche haben auch noch nicht verstanden, was Luckmann ebenfalls gesagt hat: „Die Sozialstruktur ist säkularisiert – nicht aber das Individuum an dieser Erkenntnis geht der Mythos der Säkularisierung vorbei“ (Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft, 1980). Wenn nicht alles täuscht, interessiert sich auch die institutionalisierte Kirche als Teil der Sozialstruktur zunehmend für Rollen und Rollenverhalten und für ihr eigenes Rollengefüge. Aber immer weniger für das Selbst der Person. ‚Seelsorge‘ war gestern.