Was gibt es heute?
Streunefix – oder: das Roll-Mops-Gericht mit Eierlikör

„Chanel 5“ wird 100 Jahre alt, ‚Uns Udo‘ 75. Hier die schräge Kunstfigur, die er sein will, dort der künstliche Duft. Chanel steigt in die Nase, Udo redet durch die Nase, unverständlich, nuschelt. Beide bezaubern mehrere Generationen – ähnlich wie ‚Uns Uwe‘, der in diesem Jahr noch 85 wird. Schon ‚Uns Udos‘ Eltern haben es „hingekriegt“, wie er selbst sagt, „so einen komischen Vogel, so eine Nachtigall mit Hut, auf die Welt zu zaubern“. Das Zauberprodukt Udo ist ein Vorzeigeprachtexemplar für Andreas Reckwitz‘ These von der Gesellschaft der Singularitäten.

Es ist singulär, als „Streunefix“ ‚valorisiert‘ zu werden. Einmal sind wir dem „easy Schleicher“ in Zürich begegnet – nicht in seinem Hotel in Hamburg, wo er dank Corona „als einziger Gast“ haust, von einigen „Dämonen“ als Mitbewohnern abgesehen. Udo inzwischen allein zu Haus. Dazwischen war Udo, wie er in einem bemerkenswerten Interview mit der FAS (16.05.2021) erzählt, „viel mit Alkohol unterwegs“, ist „nachts durch den Kietz gelaufen“ und „am liebsten in der ‚Ritze‘ gelandet“. „Ich habe als junger Märtyrer in den Katakomben mein Leben für euch aufs Spiel gesetzt, um coole Texte zu schreiben“, sagt er. Ja, der Tod war da immer sein Begleiter, denkt er, obwohl Vergänglichkeit eine „Scheißempfindung“ sei.

Aber inzwischen renne er dem Alter weg. Pflegekräfte hätten ihm unter Tränen zugeraunt, ihr „Kompass durchs Leben zu sein“: Udo, „du kannst dich jetzt nicht so verpissen, wir brauchen dich hier on stage“, auf der Bühne des Lebens. Erving Goffman, schon 60jährig gestorben (1982), lässt grüßen. „Lieber noch nicht sterben, schön weiter durchziehen, aber mit noch größerer Ruhe“, habe er seitdem gedacht. „Schneller als das Alter zu sein“, sei sein Motto geworden. Dies sei „eine Verheißung und eine Weissagung, die mir immer wieder zugeflüstert wird von den guten Geistern, die mit der Taschenlampe in die Zukunft gucken und aus der Tiefe des Alls irgendwelche Kommentare abgeben“. Dass der Udo nicht nur eine Nachtigall mit Hut, sondern darunter „im Kopf ein flinker Vogel ist“, weiß nicht nur er. Jetzt rennt Udo nachts um die Alster, wird wieder schneller auf der Bühne, aber nicht mehr als „Rock ‚n‘ Roll-Monster“, sondern, sagt er selbst, als „Rock ‚n‘ Roll-Mops“. Auch sonst macht er sich „ein bisschen breit, dann jongliere und taumele ich durch die Gegend und nuschele mir einen ab“. Auch den etwas älteren Reinhard Mey – der wird 2022 80 – habe er schon „breit angenuschelt“.

Manche finden ihn witzig, andere, die ihm zu „steifftiermäßig“ leben, denken, der „hat ja ein Rad ab“. Und so findet Udo die 75 „witzig“, weil er „ja gar nicht damit gerechnet hätte, so eine Zahl nach irdischer Zeitrechnung zu erreichen“. Ja, Chanel duftet wohl ewig, aber Udo nuschelt endlich – da hilft auch kein Eierlikörchen. Eins geht zwar immer noch, nachdem Gurgeln mit Whisky unterbleibt. Und auf einem Bein kann man auch nicht stehen. Und ein Nahtoderlebnis reicht auch nicht. Hat da der Whisky nachgeholfen, den Wolfgang F. Rothe als „Wasser des Lebens“ anpreist? Die profunde „Einführung in die Spiritualität des Whiskys“ mit dem Vorwort eines Bischofs ist im benediktinischen EOS-Verlag, einem Eigenbetrieb der Erzabtei St. Ottilien, erschienen. Jedenfalls, sagt Udo, er sei nicht nur „vom Wahnsinn durchgeknutscht“, sondern er habe „ja auch schon diverse Nahtoderfahrungen gemacht. Ich kenne das alles“. Leider gibt Udo darüber auch im Dante-Jahr nicht viel mehr preis.

Es gibt ja auch keine einheitliche Definition für NTE (= Nah-Tod-Erlebnisse). Der Neurologe Wilfried Kuhn, der 2022 70 wird, hat darunter „Erfahrungen von Menschen zusammengefasst, die bewusstlos waren, während ihr Körper sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befand. Aber auch Menschen, die in lebensgefährliche Situationen geraten sind und diese unverletzt und ohne Bewusstseinsverlust überlebt haben, berichten von vergleichbaren Erlebnissen. Darüber hinaus treten NTE-Elemente auch in Phasen von Ruhe und Entspannung wie zum Beispiel in Träumen, bei Meditation oder Yoga, Stress oder Übermüdung und auch während der Einnahme von Drogen auf“ (Wilfried Kuhn, Die Grenzen des materialistischen Weltbildes. Warum die Nahtoderfahrung neurobiologisch nicht vollständig erklärt werden kann, in: Tobias Kläden, Hg., Worauf es letztlich ankommt. Interdisziplinäre Zugänge zur Eschatologie, Freiburg 2014). In der Regel sind Nahtod-Erfahrungen durch eine Kombination aus 15 ‚Bausteinen‘ bestimmt, so Michael Schröter-Kuhnhardt (Nah-Toderfahrungen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 11/2005, 56-65). Darunter finden sich am häufigsten Gefühle der Ruhe, des Friedens und Wohlbefindens, von Freude und Glück, Lichtwahrnehmungen und der Eintritt in überirdische Welten, Out-of-body-Erfahrungen, beschleunigte Zeitabläufe. Tunnelphänomene, Einheitserleben, Kontakte mit mystischen/religiösen Wesen, mit Verstorbenen und Lebensrückblicke kommen seltener vor.

Außer Nahtoderlebnissen verfügt Udo über eine „Seelenrutschbahn“. Die hat er sich seit Kindheitstagen auch im Hamburger Hotel noch erhalten. Auf der kannst du „in dir rauf- und runterrutschen in deine Kindheit“. Die könne er „jederzeit wieder voll aktivieren“. Und das macht er denn vor Corona auch auf der Bühne, fühlt dann „die ganze Intensität, den Erlebnisflash. Das überträgt sich auf die Leute, die zuhören. Die stehen dann auch in Flammen. Oder schwimmen in einem Tränenmeer“.

Fast wie kollektives Beichten, denke ich; beichten freilich wohl aus unvollkommener Reue (‚attritio‘ statt ‚contritio cordis‘), weil aus Angst vor den Flammen der Hölle oder dem Purgatorium. Auch deshalb brauchen wir Udo Gerhard Lindenberg noch, zumindest so lange, bis die Leute samstags vor den Beichtstühlen wieder Schlange stehen, drinnen ihre Geständnisse rocken und sich danach zur Buße wieder davonschleichen.