Was gibt es heute?
Spirit statt Sprit – oder: das Flammengericht

Kaum jemand dürfte heute das Erlebnis haben, plötzlich kleine Feuerflammen auf seinem Kopf und auf den Schädeln anderer tanzen zu sehen. Wenn doch, dann wäre nicht die Feuerwehr zu rufen … Aber einigen dürfte doch die außeralltägliche Erfahrung nicht fremd sein, für eine Idee ‚Feuer und Flamme‘ zu werden, ‚für etwas zu brennen‘ und – ‚außer sich geraten‘ – am liebsten alles dafür stehen und liegen zu lassen. Eine solche Begeisterung mussten die Jesusjünger*innen gehabt haben, als sie „alles verlassen“ hatten, um ihrem Meister hinterherzulaufen. Und eine solche ‚Glut‘ musste es gewesen sein, um seine Anhänger nach seinem Tod in Jerusalem mit anderen Juden, die – 50 Tage nach Pessach – das Fest Schawuot feierten, zusammenlaufen zu lassen. Daraus wurde ein Megaevent von rund 3000 Freunden und Fremden.

Religion scheint offensichtlich nicht nur ein Regelwerk zu sein, das den Leuten zeigen soll, wo es lang geht. Ist Religion nicht zuerst eine Quelle der Inspiration, die uns herausreißen kann aus dem Denken-wie-üblich? Der Jesuit Friedhelm Mennekes beschwört die „Kreativität des Christentums“ und erlebt die Kirche als „inspiriertes Umfeld“ und Quelle der Weisheit. Und es gelte, sich auch von anderen, „fremden“ Welten – etwa der Kunst – provozieren zu lassen, ohne in ihnen aufzugehen.

Das Event in Jerusalem erreichte seinen Höhepunkt, als die Beteiligten „bestürzt“ erleben mussten, dass sie sich in ihrer Fremdheit und Vielsprachigkeit verstehen konnten. „Alle gerieten“, so heißt es in der Apostelgeschichte (Apg 2,12), „außer sich und waren ratlos“. Drogen und Alkohol sollen nicht im Spiel gewesen sein. Jedenfalls wischt Petrus den – auch damals erwartbaren – Vorwurf mit einer flammenden Rede beiseite. Es war seine erste. Er ließ sich dabei von einer prophetischen Quelle inspirieren, nicht von amtspriesterlichem  Herrschaftswissen: „So spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen …“ (Apg 2,17f). Es ist der Gründungsakt der christlichen Gemeinde. Es ist der pfingstliche Ursprung der Kirche.

Sollten wir uns in der Kirche von heute nicht aus diesem Ursprung heraus kreativ inspirieren lassen? Wozu? Um der derzeitigen Kakophonie zu begegnen. Kaum etwas dürfte Kirchenmitglieder so „ratlos“ und „bestürzt“ machen wie die momentanen Konflikte im Innern und auf allen Ebenen der Kirche. Sie sind basal, nicht banal. Früher vielleicht nur Experten bekannt, sind sie heute öffentlich. Sie sind allgemein sichtbar und erfassen auch die amtstragenden Kirchenmitglieder. Sie zerfleischen sich, sagen einige martialisch. Manche reden von Kirchenspaltung. Jedenfalls ist der vielbeschworene Einheitskonsens Fiktion.

Noch brenzliger scheint mir zu sein, dass es an Vorstellungen fehlt, aus der Arena des destruktiven Kampfes eine Arena der konstruktiven Verständigung zu machen. Und: Es gibt keine Vision für die Kirche der Gegenwart, es fehlt eine Verständigung über ihre ‚mission‘: Wozu bist du da, Kirche im 21. Jahrhundert? Es mangelt an innerkirchlichen Mechanismen des gepflegten Austauschs und der lösungsorientierten Entscheidung.

Ein Problem in der heutigen Kirche ist auch, dass Entscheidungen aufgeschoben und keine Akzeptanz mehr finden. Konzil? Genügt nicht – weil viel zu selten. Bischofssynode? Hat viel, aber auch nichts zu sagen. Roma locuta, causa finita? Vorbei – weil Gehorsam unwiederbringlich als Wert verloren hat, schon in den Familien. Diözesansynoden? Zu wenig kompetent – weil Rom zustimmen muss. Synodaler Weg? Sackgasse – weil er eine „Verschwendung von Hoffnungen“ betreibt. Das Wort stammt von Hans Küng, dessen kirchenbezogene Hoffnungen selbst unerfüllt blieben wie die vieler Theologen und Theologinnen von heute. Theologische Argumente also? Kommen nicht an – sie sind die Münze des Wissenschaftssystems, und in der Kirche gilt eine andere Währung.

 Papst Franziskus scheint all dies erkannt zu haben, als er kurz vor dem diesjährigen Pfingstfest einen anderen Lösungsweg vorschlug und einen mehrjährigen, dreiphasigen synodalen Prozess über die Synodalisierung der Kirche ankündigte. Statt eines Konzils, anstelle der ursprünglich vorgesehenen Bischofssynode 2022. Im Oktober 2021 soll es losgehen. Themen noch ungewiss. Vielleicht gerät ja auch die ‚mission‘ auf die Agenda. In einer Meldung der KNA heißt es: „Eröffnet wird die erste dezentral beginnende Bischofssynode am 9. und 10. Oktober vom Papst in Rom; eine Woche später soll in jedem Bistum weltweit der diözesane Startschuss fallen. Anhand eines Fragebogens und Leitfadens wird dort unter Leitung des Ortsbischofs bis März 2022 beraten und gebetet. Auch Ordensgemeinschaften, Kurienbehörden, katholische Vereinigungen, Gemeinschaften und katholische Fakultäten sollen für sich einen solchen synodalen Prozess unternehmen. Alle Ergebnisse gehen an das Synodensekretariat in Rom. Dieses erstellt daraus ein erstes Arbeitsdokument, das ab Herbst 2022 auf kontinentaler Ebene beraten wird. Auch die Früchte dieser synodalen Beratungen und Gebete gehen zurück nach Rom und werden dort zu einem zweiten Arbeitsdokument destilliert. Es bildet dann die Grundlage für die Beratungen der Vollversammlung der Bischofssynode, die im Oktober 2023 in Rom tagt.“

Früchte werden destilliert … Kommt dann in Rom Sprit statt Spirit heraus? Schon verkriechen sich Mitglieder der Kirche in einer der vielen „Falten“, die das Gewand der „Mutter Kirche“ hat: Sie trösten sich mit ihren eigenen Kirchenerfahrungen und Kirchenträumen. Noch. Andere treffen die Option des Disengagements, resignieren, ziehen sich raus, auch aus ihren bisherigen Kirchenfalten. Oder sie treffen die Exit-Option, weil ihre Stimme („voice“) nicht erfragt, nicht gehört und schon gar nicht erhört wird. Was hätten sie auch für eine Adresse? Wohin sollen sie sich wenden? Oder sie schließen sich anderen christlichen Gemeinschaften an, wo sie Resonanz zu finden glauben. Darunter sind hierzulande und weltweit immer mehr – ja – „Pfingstgemeinden“.

Bevor sich die Getauften verkriechen oder auseinanderlaufen, braucht es neue Arenen des Zusammenkommens, um aus der Vielfalt der unterschiedlichen, gar fremden Perspektiven heraus sich verständigen zu können. Auch um das Staunen zu erfahren, die Sprache der jeweils anderen erlernen und sprechen zu können. Es braucht dabei aber auch Verfahren, um verbindliche Entscheidungen zu treffen: kein überkommenes, sondern ein neues Regelwerk, damit Christen und Christinnen einander geistreich erfüllen, statt sich zu zerfleischen. Glauben wir? Glauben wir an die kreative Kraft aus dem pfingstlichen Ursprung der Kirche, der die „Söhne und Töchter“ zu Propheten und Prophetinnen gemacht hat, die Visionen und Träume und etwas zu sagen haben. Ohne sie keine Neugründung, kein „refounding“ der Kirche. Mal sehen, was Rom ab Oktober 2021 mit ihnen vorhat.