Was gibt es heute?
Aura – oder: das Grillgericht

Indem Reinhard Marx, mein Jahrgang, nicht sein Leben, aber eines seiner zahlreichen Ämter dahingeben wollte, um sich stellvertretend für die Vielen – die vielen bischöflichen Kollegen – und für die Institution der Kirche selbst zu opfern, hat man ihn beinahe zum Helden gemacht. Allerdings haben einige der Missbrauchsopfer bei diesem Verwandlungsspiel vom Opfer zum Helden nicht mitgemacht. Sie geraten ja auch nur Staffage bei dieser spektakulären Inszenierung eines medienöffentlichen Ping-Pongs zwischen dem Münchener Erzbischof und dem römischen Papst. Es begann mit einem als vertraulich etikettierten Rücktrittsschreiben eines Autors, der erst in jüngerer Zeit dazu übergegangen war, den „Gedanken der Freiheit“ in seinen Glauben zu integrieren (vgl. Reinhard Marx, Freiheit, München 2020). Einige der Missbrauchsopfer nahmen sein Opfer, sein Sühneopfer, nicht an, anerkannten auch nicht sein außergewöhnliches Geldopfer von 500.000 Euro für eine Opferstiftung, und verweigern ihm die Heldenaura. Das stellvertretende Sühneopfer haben sie nicht als Entstörungs- oder Korrekturhandlung akzeptiert, nicht als erlösende Tat. Auch wollen die Namenlosen nicht, dass sich einer, der keiner von ihnen ist, mit ihnen einen Namen macht, seinen Ruhm vermehrt und sein eigenes Gesicht erhellt. Denn als die wahren Opfer, die ‚victims‘, haben sie „kein Gesicht, an das man sich erinnert, keine eigene Stimme, die gehört werden könnte“ (Bernd Giesen, Die Aura des Helden, in: Diesseitsreligion 1999). Zudem verbleiben sie im „düsteren Randbereich“ (ebd.) der Gesellschaft, nehmen keine ersten Plätze ein, schon gar keinen herausgehobenen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Schon gar nicht im Zentrum der Kirche.

Von dort aus verweigert auch Papst Franziskus Erzbischof Reinhard den Heldenstatus. Helden der Kirche, die Heiligen, sind Tote. Helden sind ja die, die „sich über Regel und Gesetz zu erheben“ (ebd.) vermögen und darüber Macht gewinnen. Sie verkörpern die Ausnahme, die erst die Regel schafft, für deren Einhaltung ein Papst steht. Nur er ist Herr des Rechts, des Kirchenrechts. Nur er. Nur er darf die „Kruste des Gewöhnlichen“ (Carl Schmitt) brechen Nur er. Auch braucht jede Gemeinschaft die Verkörperung dessen, was ihr heilig ist, um ihre kollektive Identität zum Ausdruck zu bringen. Aber nur er ist der irdische ‚Heilige‘ (Vater). Kein Zweiter. Eine Regel braucht die Ausnahme, um als Regel überhaupt wahrgenommen zu werden. Aber nur der Heilige Vater überwacht sie, wie er sie setzt und aussetzt. Nicht ein Erzbischof, nicht ein Kardinal, und erst recht nicht ein solcher, der dem Papst in den letzten Jahren so nahegekommen ist.

So verweigert der Papst Reinhard Marx nicht nur die Heldenaura – ziemlich rasch, bevor sich sein Heldenstatus hätte verfestigen können. Er stößt vielmehr den Heldenaspiranten wieder in die Opferrolle zurück, allerdings in eine andere und auf einem Umweg. Zunächst wird der Marxsche Heldenversuch gewürdigt: „Danke für Deinen Mut“, schreibt der Papst: „Es ist ein christlicher Mut, der sich nicht vor dem Kreuz fürchtet, und der keine Angst davor hat, sich angesichts der schrecklichen Wirklichkeit der Sünde zu erniedrigen“. Mut, furchtlos, ohne Angst im Kampf gegen das Böse, die „Katastrophe“, das „Verbrechen“, wie der Papst ein paar Zeilen später schreibt, vorbildlich, bereit zur Selbststigmatisierung – das ist die Semantik des Heroischen, die er aktiviert. Zugleich wird der Heldenversuch als christlich legitimiert, denn das habe auch „der Herr getan“, schreibt nämlich der Papst weiter, auf den Philipperhymnus (Phil 2,5-8) verweisend, der die Selbststigmatisierung Gottes zum Thema hat. Darin heißt es: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er  erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“. Im Folgevers (9), auf den der Papst nicht verweist, heißt es bekanntlich: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen …“. Geglückte Selbststigmatisierung führt zur Erhöhung. Das ist die Semantik des heroisch Heiligen.

Nach diesem lobenden und preisenden Umweg durch die christliche Semantik des Heroischen wird vom Papst ein alternativer Weg als „der einzige Weg“ diktiert: Und der weist den Kardinal in eine andere, nämlich eine totale und unfreiwillige Opferrolle. Auch sie ist die Rolle eines stellvertretenden Sühneopfers (‚sacrificium‘), nimmt aber, durch den Papst diktiert, die Züge eines psycho-physischen ‚victims‘ an. Der Befehl des Papstes zielt – geradezu materialistisch – auf den konkreten Körper des gehorsamen Erzbischofs, wie eine drastische Semantik physischer Gewalt verrät: Ohne „bei sich selbst“ anzusetzen, ohne „sich dieser Krise auszusetzen“, gehe gar nichts, schreibt der Papst, „ohne das eigene Fleisch aufs Spiel zu setzen“ (que no ponen en juego la propia carne), gehe erst recht nichts. Reinhard Marx müsse im Amt bleiben, um, so wörtlich, „‚das Fleisch auf den Grill zu legen‘“. Wer dabei an den Geschmack eiweißreicher argentinischer Hüftsteaks denkt, ist wohl ‚geschmacklos‘, wer sich an die christlichen Märtyrer erinnert, kennt sich aus. Der Eisenrost, auf dem etwa ein ehemaliger Verwalter des römischen Kirchenvermögens das Martyrium erlitt, wird in der Kirche San Lorenzo in Lucina verehrt; und die steht in Rom.

Der argentinische Papst in Rom scheint nicht mehr und nicht weniger als ein Münchener Martyrium im Sinn zu haben. Es gehe nicht darum, mit der Last zu leben, weiterhin „Sünden zu verheimlichen“, Leichen im Keller oder – wie der Papst auf Spanisch sagt – „Skelette im Schrank zu haben“ (tener esqueletos en el armario). Es gehe darum, „in die Wüste der Trostlosigkeit“ zu gehen, „unsere Nacktheit zu bekennen“ und „zu weinen, und zu stammeln, so gut wir können“, um eine „heilsame Scham“ zu erleben. Sich kreuzigen zu lassen, anstatt sein Amt an den Nagel zu hängen, um die kirchliche Institution zu erlösen, lautet die brüderliche Anweisung von oben. Als Kardinal ‚Türangel, Dreh- und Angelpunkt‘ (lat. cardo) zu sein, statt den „toten Punkt“ der Kirche zu beschreiben. Soll das Rot der Kardinalskleidung nicht auch daran erinnern, bis zum Vergießen des eigenen Blutes für den kirchlichen Glauben einzustehen?

Der Papst mag keine Soziologismen und Psychologismen, wie er abwertend schreibt, was das auch immer heißen mag. Dabei wendet er sie selbst an, indem er sie verneint: Die Psycho- und Soziologismen des Heroischen, der Viktimisierung und der Selbststigmatisierung.