Was gibt es heute?
Zeigen und Schweigen – oder: Das Tabugericht

‚Das darfst du nicht essen, das ist nicht koscher‘, sagen Juden, ‚das ist nicht hallal‘, sagen Muslime. Hunde, Katzen, Pferde, Schlangen … nein, aber Schweinshaxe geht, sagen andere. Neben Essverboten gibt es weitere Tabus, etwa Schweigegebote in Gesprächen (Themen, Sachverhalte, Stilformen) oder Zeigeverbote im Internet: Terroristen beim Schießen per Handy-Video zu posten, galt in Österreich als Tabubruch. Über die Enthauptung des französischen Lehrers zu sprechen, übrigens an einigen deutschen Schulen auch. Schweige- und Zeigetabus.

Den nackten Jesusknaben zu zeigen, geht eher als ein Gemälde mit der nackten Madonna. Marienbilder von Jan van Eyck oder an das kultische Maria-Hilf-Bild von Innsbruck, im 16. Jahrhundert von Luca Cranach d. Ä. gemalt, bezeugen es (s. Jürgen Lenssen, Hg., Maria-Hilf. Ein Cranach-Bild und seine Wirkung, Würzburg 1994). Maria trägt sogar Schleier, im Vergleich zur ursprünglichen Ikone, an der sich dieser Bild-Typ orientiert, aber keinen Nimbus. Der protestantische Maler hat ihn weggelassen. Tabubruch? Die byzantinische Ikone stellte beide – Maria und das Kind – noch bekleidet dar. Dann wurde der Jesusknabe ‚enthüllt‘, beinahe so nackt wie später auf dem Schlag-Bild von Max Ernst und so rosig wie auf dem Weihnachtsbild von Emil Nolde. Tabubruch? Irgendwann wurde außer dem Kinde auch Maria enthüllt, z.B. auf einer Bleistiftzeichnung von Bronisław Wojciech Linke (s. Dorota Folga- Januszewska/Matthias Winzen, Hg., Das Heilige und der Leib, Ostfildern-Ruit 2005). Tabubruch? Frommen von heute, die sogar Maria – als schlanke oder bäuerliche Immaculata – ganz ohne Kind bevorzugen und Kinder lieber als ‚Seherinnen‘ und ‚Seher‘ vor das Bild rücken, würde vielleicht das Messer im Sack aufgehen. ‚Mensch-Maria-Ausstellungen‘ mussten wegen eindeutiger Androhungen schon geschlossen werden. Würde ihnen auch das Messer im Sack aufgehen, wenn sie mit Kardinal Müller gegenwärtig „bemerken, dass […] die Zahl der Marienerscheinungen explodiert ist“?

Nicht nur Marienverehr’innen geht das Messer im Sack auf, wenn Maria auch noch ganz ‚oben ohne‘ präsentiert wird, so jüngst in Straubing. Dort ermittelt sogar die Kriminalpolizei – allerdings nicht wegen Tabubruchs, sondern wegen „gemeinschädlicher Sachbeschädigung“; hat man doch im Rosenkranzmonat Oktober 2020 eine Marienstatue geköpft und dem abgeschlagenen Haupt eine Mund-Nasen-Maske übergezogen. „Ich habe eine große Traurigkeit im Herzen. Ich spüre großes Entsetzen und empfinde es als Schikane”, kommentiert ein Pfarrer:  Wer das getan hat, habe „mit Gott nichts zu tun.“ Wir seien „in einer Zeit, in der Menschen mit dem Wort ‚heilig’ nichts mehr anfangen können”, meint der Straubinger Stadtdekan. Und Zigtausende stimmen ihm zu, obwohl es nicht stimmt, was er meint, aber stimmt, was er sagt; denn es gibt ja immer ‚Menschen‘, die mit irgendwelchen Wörtern ‚nichts mehr anfangen können‘. Oder mit Dingen. Ja, auch das. So war der heilige Martin von Tours zum Beispiel ein „mehr praktischer Christ, mehr Missionar und Tempelzerstörer, kein Theologe“ (Friedrich Prinz, Frühes Mönchtum im Frankenreich, München 1965). Große Traurigkeit im Herzen …

Als Tabubruch kann also nicht nur empfunden werden, wenn das, was einem ‚heilig‘ und damit unverfügbar ist, beschädigt wird. Als Tabubruch kann auch gesehen werden, wenn Göttliches von der ‚falschen‘ Religion ins Bild gebracht wird. Ebenfalls kann als Tabubruch erlebt werden, wenn Himmlisches überhaupt ins Bild gesetzt wird, wenn also etwa Maria, die schon früh von der kleinen Jüdin aus Nazareth zur Himmelskönigin aufgestiegen war, überhaupt dargestellt wird. Kritisiert wird dann der „piktoriale Illusionismus“ (Peter J. Bräunlein) in der Religion. Die Bildzerstörung, der Ikonoklasmus, gilt somit als heilige Handlung, die den Tabubruch rückgängig machen will, indem sie das Heilige sozusagen ins rechte ‚Un-Bild‘ setzt. Aber wie soll das grundlegende Problem für religiöse Kommunikation gelöst werden, dass ja darin besteht, dass sich Religion „ihrem Wesen nach nicht auf sinnliche Erfahrung gründen kann und daher besonders auf gesellschaftliche Stützung angewiesen ist“ (Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt 1972)? Was ist das korrekte Medium religiöser Kommunikation – Bild oder Text oder Schweigen? Welche Stützung legt sich in einer pluralen und hoch medialisierten Weltgesellschaft nahe, wo dauerkommuniziert wird, und zwar mit Texten wie mit Bildern?

Aus der Sicht von Bildzerstörern scheinen Texte für Göttliches weniger störend zu sein als Bilder. Religionen mit Bilderverboten kennen keine Textverbote. Die Protestanten setzten auf Texte und konnten sogar Bilder zersetzen, wenn sie sie nicht ins Museum versetzten. Ja, das war die harmlose Variante: Musealisierung statt Vernichtung. Mit dem explikativen Kult des Wortes im Luthertum einerseits und mit dem autonomen, auf Reflexion gerichteten religiösen Erleben bei den Reformierten anderseits wurden klare anikonische Präferenzen für das Ohr und gegen die ikonische und ritualbezogene expressive religiöse Form des Auges auf katholischer Seite gesetzt. Ohr vor Auge, statt Auge vor Ohr. Die katholisch-sinnliche Seite sagt: sowohl Auge als auch Ohr (und manchmal auch noch Nase). Sie setzte und setzt auf Text und Bilder, um das Unaussprechliche zum Sprechen zu bringen und das Unsichtbare zu zeigen. Auch das jenseitige Schicksal (Himmel,  Hölle, Fegefeuer) wurde auf katholisch unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden ‚Medien’ kommuniziert, seit dem 17. Jh. z. B. mit Hilfe von Bildern oder Tafeln und ganzen Serien von einzelnen Affektfiguren (Totengerippe, Portrait einer Seele in der Hölle, im Himmel, im Fegefeuer). Von den Jesuiten wurden die armen, weil leidenden Seelen im Fegefeuer seit 1678 auch mit der Zauberlampe, der ‚Laterna magica‘, vorgeführt, einer Vorläuferin des Diaprojektors oder Beamers von heute. Tabubruch? Die Verehrung soll, so die katholische Lehre, nicht dem Bild, sondern der abgebildeten heiligen Person, dem Urbild, dem Prototyp, gelten. Umgekehrt bedeutet dies, „dass auch die Verunehrung eines hl. Bildes das Urbild trifft“ (Hans Dünninger). Empirisch lässt sich dies freilich nicht überprüfen, aber wir wissen, dass es die Verehrer*innen trifft, die ihm diese Bedeutung zuschreiben.

Als gleichsam doppelter Tabubruch kann empfunden werden, wenn eine bildliche Darstellung, die eigentlich nicht erlaubt ist‚ ‚beschädigt‘ wird – etwa durch Karikaturen. ‚Es ist ja nicht der Prophet, sondern nur eine Zeichnung‘, könnte ein gläubiger Muslim sagen. Also könne eine Karikatur den Propheten, der dargestellt wird, obwohl er es gar nicht ist, auch nicht verletzen? Doch neutralisiert die Karikatur einer unzulässigen Abbildung nicht die Abweichung. Auch der nackte Mohammed, wie 2012 von zwei Tunesiern gezeichnet, ist ein doppelter Tabubruch. ‚Minus mal minus ist plus‘ gilt hier nicht. Man muss kein Muslim sein, um seine Empörung über den doppelten Tabubruch in den Karikaturen in ‚Charlie Hebdo‘ oder auf Facebook zu verstehen. Mohammeds Verehrer*innen sollten getroffen werden. Und man muss auch kein Katholik sein, um seine Empörung über den einfachen Tabubruch der geköpften Madonna in Straubing zu verstehen. Ihre Verehrer*innen sollten getroffen werden. Mohammed nackt, Madonna geköpft – das sind verletzte Bedeutungsträger letzter Werte, die anderen Menschen etwas gelten. Und der geköpfte französische Lehrer auch. Große Traurigkeit im Herzen …

Bei allem Verstehen ist freilich allen zu raten, das Messer nur im Sack aufgehen und dort stecken zu lassen und das symbolische wie reale Köpfen zu unterlassen. Das staatliche Gewaltmonopol will das gesellschaftliche Gewalttabu garantieren, es reicht dazu aber nicht hin. Und wenn der Frieden auch nicht auf religiösem Weg garantiert werden kann – große Traurigkeit im Herzen – , dann etwa durch Vernunft? Schon ein vorchristlicher und damit vorislamischer Text überzeugt (mich), fordert doch der alte Herodot Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung (Historien. Deutsche Gesamtausgabe, Stuttgart 52017) für bestimmte Themen und Sachverhalte ein Spotttabu: „Denn wenn man an alle Völker der Erde die Aufforderung ergehen ließe, sich unter all den verschiedenen Sitten die vorzüglichsten auszuwählen, so würde jedes, nachdem es alle geprüft, die seinigen allen anderen vorziehen. So sehr ist jedes Volk überzeugt, dass seine Lebensformen die besten sind. Wie kann daher ein Mensch mit gesunden Sinnen über solche Dinge spotten?“. Große Freude im Herzen, als ich das las …