Was gibt es heute?
Abusus – oder: Das Wir-Gericht

Es ist ja von allerlei Missbrauch in der Kirche die Rede: sexueller Missbrauch, geistlicher Missbrauch, Amtsmissbrauch. Neulich las ich: „Vielmehr spielte Rom auf Zeit und versuchte nicht nur, Missbrauch zu dulden, sondern ihn durch amtliche Prüfungen sogar zu legitimieren.“ In den Kirchenprovinzen habe dieser Missbrauch „zur Tagesordnung“ gezählt, und dem Bischof von Perugia z.B., der sogar „eine Zeichnung der örtlichen Gegebenheiten anfertigen“ ließ,  wurde von der römischen Kurie geraten, ihn „nicht zu unterbinden und zu warten, bis die Affäre im Sande verläuft.“ Kennen wir nicht diese „liberale Einstellung ausgerechnet der Konzilskongregation“? Sie galt dem „Bildmissbrauch“ (Philipp Zitzlsperger, Trient und die Kraft der Bilder. Überlegungen zur virtus der Gnadenbilder, in: Peter Walter/Günther Wassilowsky (Hg.), Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563-2013). Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Band 163. Münster 2016).

Ja, Bildmissbrauch, das gab es und gibt es immer noch in der römisch-katholischen Kirche. Das Christentum „in seiner katholischen Variante ist ja“, anders als es viele denken, „keine körperfeindliche, sondern eine geradezu vom Körper besessene Religion.“ Und Valentin Groebner, der in Luzern Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance ist, schreibt über die  körperbesessene Kirche weiter (Wer redet von der Reinheit? Eine kleine Begriffsgeschichte, Wien 2019): : „Immer mehr, immer buntere, immer realistischere Bilder produzierte sie, und nicht Texte, sondern Bilder waren die ersten massentauglichen Kommunikationsmittel, eine Generation vor Gutenberg. In der Visualisierungsrevolution des späten Mittelalters wurden diese Bilder Medienkörper“. Also doch körperlicher Missbrauch im Bildermissbrauch? Medienkörpermissbrauch?

Das Urteil des Bildmissbrauchs bezieht sich auf eine Praxis einige Jahrhunderte später, hat doch das Konzil von Trient im letzten Moment (1563) die Entscheidung eines Bilderverbots verhängt, das in der Praxis bis heute nie eingehalten wurde, auch damals schon von der römischen Kurie selbst nicht. Was gilt eigentlich in dieser Kirche? Das hätte man damals schon fragen können. Die Konzilsentscheidung hat zwar „die Verehrung von Bildern im Kirchenraum erlaubt. Sie hat aber nicht dem Bild selbst, sondern dessen dargestelltem Gegenstand zu gelten“, und den Bildern wurde „jede Form der divinitas und der virtus entzog. Bilder sind weder heilig, noch besitzen sie eine Kraft, die Wunder wirken könnte“, so kommentiert der neue Professor für Kunstgeschichte in Innsbruck, Zitzlsperger, das Konzilsurteil. Der faktische Bildermissbrauch bestand nun darin, dass dieses Trienter Bilderdekret schon seit der unmittelbaren Folgezeit missachtet wurde, indem Gnadenbilder produziert, kopiert und propagiert und zu kommunikative Waffen ‚geschmiedet‘ wurden: nicht nur, um die Reformation zu bekämpfen, sondern auch Kriege zu führen (s. meinen Blogeintrag vom 25. März 2022). Nachdem die geweihte Hostie – spätestens mit der Einführung von ‚Fronleichnam‘ (1271) – zum „medialen Superkörper“ mutiert war, zumal sie – im Unterschied zu den begrenzten Reliquien – „von geschultem Personal, dem Klerus, jederzeit nach Bedarf in unbegrenzter Stückzahl hergestellt werden konnte“ (Groebner), vollzieht sich die „Karriere des Gnadenbildes“, so Zitzlsperger, „im Widerspruch zu Trient“, freilich ohne den Status der Hostie zu erhalten.

Der damit angestoßene Verstoß der obersten Kirchenleitung gegen ihre eigenen Konzilsentscheidungen erweist sich zugleich als Stoß gegen den immer wieder gepflegten „Mythos der Trienter Einheitlichkeit“ (Zitzlsperger), ja gegen den Mythos der Einheit der Kirche und die Geltung ihrer Norm des Gehorsams. Und als Stoß gegen das Prinzip der Synodalität in Gestalt des Konzils, das ja das Bilderverbot beschlossen hatte, aber sich damit nicht durchsetzen konnte. Das faktische ‚Wir‘ führte schon damals das behauptete ‚Wir‘ ad absurdum.

Das ‚Wir‘ in der Kirche ist eine Fiktion – und sicherlich nicht nur dort. Man zähle einmal die ‚Wirs‘, die ein amtierender Generalvikar (im „Christ in der Gegenwart“, Heft 25, 2022) aneinanderreiht, um gegen das von Rom behauptete ‚Wir‘ anzureden und damit jede Rede von ‚Gemeinschaft der Kirche‘ zum Gedöns und jede Rede von der ‚Einheit‘ zur Fiktion macht: „Wir haben ja gesehen, wo wir zum Teil weit hinter unseren Ansprüchen zurückbleiben. Darüber denken wir nach, das bekennen wir, und dann wollen wir auch umkehren. Für mich ist klar, dass wir jetzt nicht mehr akzeptieren dürfen, bestimmte Dinge um der sogenannten Einheit willen nicht weiter zu verfolgen. Wenn wir überzeugt von etwas sind, müssen wir es jetzt auch mal umsetzen. Kann eine Minderheit immer blockieren, wenn eine Mehrheit zu einer besseren Ansicht kommt? Müssen wir nicht den Weg einer größeren Vielfalt gehen, bei dem wir sagen: Wir sehen Dinge unterschiedlich, aber wir können auch unterschiedlich handeln aus dem Geist Jesu heraus. Wenn es darum geht, das Richtige zu tun, muss ich womöglich auch Menschen vor den Kopf stoßen. Dass Jesus am Sabbat geheilt hat, war nicht richtig – es war aber das Richtige“. Der Bildmissbrauch war nicht richtig – aber das Richtige? Es lebe die Differenz, auch in der Kirche.