Was gibt es heute?
Skepsis – oder: Das Generationen-Gericht
In seinem grandiosen Nachruf auf Benedikt XVI. in der FAZ vom 2. Januar 2023 hat Daniel Deckers nebenbei daran erinnert, dass der verstorbene deutsche Papst, Jahrgang 1927, ein „Vertreter der ‚skeptischen Generation‘“ gewesen sei. Der Begriff geht auf den Soziologen Helmut Schelsky zurück. In seiner „Soziologie der deutschen Jugend“ (1957) hat er diesen Ausdruck bereits im Buchtitel geprägt. Was hat Schelsky mit diesem verallgemeinernden Etikett gemeint? Hilft das Gemeinte, einige Züge Joseph Ratzingers zu verstehen, obwohl er sich als Theologe, Bischof und Papst aus der allgemeinen Masse herausbewegte?
Auf der Basis verschiedener empirischer Studien hat Schelsky seinerzeit versucht, ein „Gesamtbild der deutschen Jugend“ zu entwerfen. Das sind die Jugendlichen, „die in dem Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955 in die Jugendphase“ getreten waren, allerdings nur in Westdeutschland. Zweifellos gehörte Joseph Ratzinger als damals 18-Jähriger dazu. Diese skeptische Generation hatte, so Schelsky, zwei frühere Jugendgenerationen abgelöst: die „romantische Jugendgeneration“, d.h. die alte Jugendbewegung mit ihren „Freiheits- und Naturschwärmereien“, und die in weltanschaulich heterogenen Jugendverbänden seit den 1920er Jahren organisatorisch zersplitterte Generationsgestalt der „politischen Jugend“. Die endete bekanntlich „in der ‚Hitlerjugend‘ des Deutschen Reiches, also im staatsjugendlichen Monopol eines dieser politischen Jugendverbände“ (Schelsky). Obwohl der junge Ratzinger in den letzten Kriegsjahren noch der Hitlerjugend beitreten musste und zur Flak eingezogen worden war, gehörte er definitiv nicht der ‚politischen Jugendgeneration‘ an, freilich auch nicht den noch älteren Jugendbewegten, die ihren prägenden Erfahrungsraum bereits im Ersten Weltkrieg hatten.
Von der ‚skeptischen Generation‘ zeichnet Schelsky ein ziemlich scharf geschnittenes Portrait, das auch das Bild des verstorbenen Mannes in Weiß mitprägte. Hierzu gehörte die massive Distanz, ja ein „Abstoßen der politischen Generationsgestalt“, der übrigens der 1912 geborene Schelsky zuzurechnen ist. So ist für den jungen Joseph Ratzinger anzunehmen, dass die „dem jugendlichen Wesen recht unangemessenen Erfahrungen des Krieges und seiner Folgen […] nicht nur die Identifikationsbereitschaft mit bestimmten politischen Systemen, etwa dem Nationalsozialismus oder dem Nationalismus, erschüttert, sondern die politische Glaubensbereitschaft und ideologische Aktivität, die die vorige Generationsgestalt der Jugend insgesamt kennzeichnete, an der Wurzel vernichtet“ (Schelsky) haben. Dies ist der Kern des Skeptizismus, den diese Generation bestimmt. War nicht der Geist der skeptischen Generation auch noch vernehmbar, als der Papst am 22.09.2011 im Deutschen Bundestag den Staat als potenzielle Räuberbande entwertete und damit die Parlamentarier schockierte und empörte? So zitierte Benedikt XVI. einen Intellektuellen der Spätantike, der bereits damals das Politische relativierte: „‚Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande‘, hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte.“
Ein weiteres Merkmal dieses Generationsporträts ist, so Schelsky, die Suche nach Halt in der Erwachsenenwelt. An diese habe sich die damalige skeptische Jugendgeneration angepasst: mit einer „starken Berufszugewandtheit“ und einem Lob der Familie als Herkunfts- und als Eigenfamilie. Auch diese Züge sind bei Ratzinger markant: seine Liebe zur Herkunftsfamilie, zum Vorbild des Vaters und der Mutter im „ethischen Urteilen“ (Schelsky), zur engen Bindung an die Geschwister, nicht zuletzt seines älteren Priesterbruders Georg. „Der hellsichtige Glaube meines Vaters hat uns Geschwister glauben gelehrt und hat als Wegweisung […] standgehalten; die herzliche Frömmigkeit und die große Güte der Mutter bleiben ein Erbe, für das ich nicht genug danken kann […] mein Bruder hat mir mit der Hellsicht seiner Urteile […] immer wieder den Weg gebahnt; ohne dieses immer neue Vorausgehen und Mitgehen hätte ich den rechten Weg nicht finden können“, so schreibt Benedikt in seinem 2006 verfassten geistlichen Testament. Mit seinem Bruder hatte er auch ein weiteres Merkmal gemein: das für die skeptische Generation typische „Bedürfnis, das Substantielle und im normativen Sinne Verbindliche an den Dingen und den Menschen zu erkennen und ihm zu folgen“ (Schelsky). Dieser Habitus schlug sich auch in seinen platonisch ausgerichteten theologischen Texte nieder. Während er die „solidarische Einstellung zur eigenen elterlichen Familie“ mit seinen Generationsgenossen teilte und seine Herkunftsfamilie jenen „Bereich des Privaten und Persönlichen“ betrifft, den sich diese skeptische Generation „bewahren will“, hat er deren damalige „Neigung zu einer frühen festen partnerschaftlichen Bindung, ja zur Frühehe“ nicht geteilt. Bei Ratzinger zeigt sich das generationstypische Bemühen, sich „in allem frühzeitig dem erfolgreichen sozialen Handlungsformen der Erwachsenen anzupassen“, in seiner frühen Priesterweihe am 29. Juni 1951, am Fest Peter und Paul. War diese Berufung eine der „jedem vorgegebenen sozialen Handlungsnotwendigkeiten der modernen Gesellschaftsstruktur als der jugendliche Weg zur Verhaltenssicherheit“? So könnte man mit Schelsky fragen.
Jedem jugendlichen Menschen freilich – bis heute – nicht! Aber den Söhnen von Maria und Joseph schon, die sie katholisch erzogen und den dabei sozialisierten Habitus ab 1939 in der katholischen ‚Kadettenschmiede‘ von Traunstein weiter verkirchlichen ließen. Man müsse „in Traunstein gewesen sein, um Papst Benedikt XVI. zu verstehen“, postulierte Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung (vom 14.04.2007): „Fern von den großen Städten liegt der Ort vor den Bergen, und noch ein wenig weiter abgelegen liegt das bescheidene Bauernhaus, in dem Joseph Ratzinger Kindheit und Jugend verbrachte. […] Der kleine Joseph ist groß geworden und berühmt, Professor, Bischof, Präfekt der Glaubenskongregation, Papst. Er hat die Welt bereist und ist nun der bekannteste Deutsche der Welt. Aber das Traunstein seiner Kindheit ist in ihm geblieben […] mit seiner bodenständigen Frömmigkeit, mit der Wärme einer Heimat, in die nichts Fremdes, Verunsicherndes, Unheimliches eindringt.“ Ich selbst war einmal in dieser altbayerischen Stadt, habe vor wenigen Jahren sogar in dem Zimmer – im Bett – des dortigen Erzbischöflichen Studienseminars St. Michael geschlafen, in dem der hohe Geistliche früher genächtigt haben soll. Ein überdimensionierter Sessel links neben einem großen Schreibtisch und ein Riesenkreuz an der Wand – alles steigerte das Gefühl der Erhabenheit.
Dass Joseph und Georg Ratzinger vor mehr als 70 Jahren Priester wurden, war damals nichts Ungewöhnliches. 1951 wurden allein im Erzbistum München-Freising über 40 Neupriester geweiht, in ganz Westdeutschland waren es – ohne Ordenspriester – 568. Allein 1951! Seitdem ging diese Zahl wellenförmig zurück, um 1995 erstmals unter 200, 2008 erstmals unter 100 und heute bei 48 zu landen. Ebbe ohne Flut. Von den 18-25-jährigen jungen Katholiken gingen damals noch mehr als die Hälfte (55%) „regelmäßig“ zur Kirche mit dem „Anspruch, etwas Festes, Eindeutiges, Glaubwürdiges in die Hand zu bekommen, mit dem man etwas anfangen, experimentieren und das man vor allem in eigener Erfahrung auf seinen Wert oder Unwert überprüfen kann“ (Schelsky). „Steht fest im Glauben! Lasst euch nicht verwirren!“, hat Papst Benedikt in seinem geistlichen Testament geschrieben. Auch dieses weist ihn als Vertreter der skeptischen Generation aus, die bis vor einiger Zeit noch die Spitze der Kirche repräsentierte, ohne sie wirklich zu führen und zu leiten. Als Vertreter der skeptischen Generation war er eben auch „von der planerischen Ohnmacht des Menschen“ (Schelsky) überzeugt. So galt auch einem vernünftigen Management der Kirche als Organisation seine Skepsis, womit andere zur „Willkürherrschaft“ (Daniel Deckers) ermuntert wurden.