Was gibt es heute?
Hospes – oder: Das KH-Gericht

Neulich musst ich mir mal wieder zuhören … Ehrlich gesagt, sagte ich, wollte ich 1991 an der KH – KFH hieß sie damals – ein Fremder bleiben, einer, der heute kommt und morgen geht. So könnte man auch den ‚Gast‘ oder ‚Wanderer‘ definieren. Und einige Kolleginnen und Kollegen haben mir anvertraut, dass sie als ‚Neulinge‘ gern mit der – kollegial gut gemeinten – Aussage konfrontiert wurden: ‚Mal sehen, wie lange Du es hier aushälst‘. Faktisch bin ich aber kein Gast oder Wanderer an der KH geworden, sondern einer, der heute kommt und morgen bleibt. So die soziologische Definition des Fremden von Georg Simmel und Alfred Schütz.

Und nun bin ich einer, der gestern gekommen, dann geblieben und nun am Gehen ist. Meine Relationen zur KH – der Begriff des Fremden ist kein Eigenschafts-, sondern ein Relationsbegriff – verschieben sich also und werden sich weiter verschieben. Werde ich mir damit selbst ‚fremd‘ werden? So ist nach meiner Definition der/die Fremde eine Person, die gestern kam und dann blieb, bevor sie geht. Das Bleiben kann mehr oder weniger lang andauern. Irgendwann ist ohnehin Schluss …

Nicht allein deshalb habe ich das Thema ‚Fremdheit im System‘ gewählt; sondern weil ich so etwas wie ein Lob der Fremdheit ausbringen möchte, die eine Hochschule zu kultivieren hat – allem immer mal wieder zu hörenden Gemeinschaftsgedöns zum Trotz. Meine Provokation heißt also: Statt Sehnsucht nach Gemeinschaft: Wille zur Fremdheit, Gestaltung von Fremdheit!

I.

Für die an einer Hochschule Arbeitenden ist sie primär Arbeitsplatz, an der nicht die Person, sondern Handeln und Kommunikation zählen, genauer gesagt Leistungen, die gegen Entgelt oder gegen Noten zu erbringen sind, ob in der Leitung und Verwaltung oder als Professorin oder Professor oder auf der Seite der Studierenden. Und für unseren Kanzler ist die KH ein Unternehmen, freilich ein non-profit-Unternehmen. Nicht Profit führt uns also zusammen, auch nicht Sympathie, sondern unterschiedliche – sicher auch ökonomische – Motive sowie die hierarchischen und polyarchischen Koordinationsprogramme der Organisation. Sympathie unter Kolleginnen und Kollegen kann entstehen, muss aber nicht, und  ist eher unwahrscheinlich, wie die immer wieder neuen ‚Stammtisch‘-Anläufe belegen. ‚Gemeinschaft‘ zwischen einzelnen Kolleginnen und Kollegen ist in den Nischen der Organisation möglich, mit allen ist sie unwahrscheinlich. Sie wäre erst recht riskant, weil dann das Personale in Führung ging, nicht mehr die Quantität und Qualität der Leistung.

Befremdliches in dieser Hinsicht habe ich allerdings schon am Anfang hier erlebt. Gerade dem Fremden in Gestalt des Neuankömmlings – dem, der heute kommt und dann zunächst doch bleibt, wenn er auch irgendwann wieder gehen muss – ist ja vieles nicht nur unvertraut, d.h. ja auch ‚fremd‘, sondern auch ‚befremdlich‘. Bereits im Gespräch mit der Berufungskommission – einer der ersten Situationen der Annäherung – wurde ich seinerzeit als potenzieller Konkurrent eines Kollegen etikettiert, nicht einmal als fachlicher Sympathisant. In einer weiteren Situation der Annäherung erfuhr ich, dass in bestimmten Lehrveranstaltungen von Fachschulräten – die gab es damals noch – Professoren mitwirken mussten. So war auch ich gehalten, mich einem dieser neuen Kollegen beizugesellen. Weil mir alle Kolleginnen und Kollegen fremd, sprich unvertraut waren, wählte ich nach fachlichen Kriterien einen von ihnen aus, um dann freilich zu erleben, von anderen hinter vorgehaltener Hand vor ihm gewarnt zu werden. Cliquenwirtschaft war mir fremd.

Weiteren Zügen einer bestimmten – mir damals fremden – Art von Organisationskultur, zu der ja auch die Art und Weise zählt, wie man mit- und übereinander spricht (also auch Klatsch und Unterhaltung), konnte ich mich nicht entziehen. So wurde ich schon in den beiden ersten Wochen zum Rektor zitiert. Auch diese Kooperation war nicht von Sympathie durchwirkt. Ich musste bei ihm vorstellig werden, weil ich in einem Vortrag in Stuttgart die Expansion der verbandlichen Caritas bei gleichzeitiger Schrumpfung der Kirche als Krise diagnostizierte. Ich war ja als Soziologe und Religionssoziologe zum Professor für Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit berufen worden, und Soziologinnen und Soziologen betreiben unter anderem am liebsten Krisendiagnosen (und keine mir fremde Verbandspolitik oder Leitbildprosa). Auch Soziologie zu treiben, versteht sich an dieser Hochschule nicht von selbst. Befremdliches zeigte sich damit auch bei der Caritas, der ich seinerzeit durch die Teilnahme an spannenden Symposien verbunden war, die der unvergessene Präsident Georg Hüssler initiierte. Aber ein mir persönlich unbekannter Ruheständler der Caritas hatte wohl nichts anderes zu tun, als mich wegen meiner Krisendiagnose und vor allem wegen meiner Lösungsvorschläge bei der Hochschulleitung – heckenschützengleich – zum ‚Kuckucksei‘ zu erklären, das für das angeblich gemeinschaftliche Nest aus KFH und Caritas gefährlich werden könnte.

Später sollte mir ähnlich Befremdliches aber nur ganz, ganz selten passieren, im Amt des Prorektors. Als Professor referierte und publizierte ich weiter und glaubte bei Bischöfen ein Managementproblem feststellen zu können – freilich nicht bei einem konkreten Hierarchen, der sich aber angesprochen fühlte (Ich könnte heute die These von damals wiederholen.) Außer meinem grundgesetzlich geschützten Professorenhut hätte ich, so die Drohung, noch einen anderen, eben den des Prorektors auf, den man mir vom Kopf stoßen könne. Allerdings habe ich nie herausbekommen und mir wurde nie transparent gemacht, wer sich hinter dieser gewaltmetaphorischen Androhung aus kirchlichen Führungskreisen verbarg. Ich behielt diesen zweiten Hut noch eine gewisse Zeit lang auf. Den ersten Hut darf ich weiterhin tragen, wenn auch bald exkommuniziert aus dem Email-Account der KH, was ich demütig akzeptiere, aber viele vor mir Gegangene als Demütigung erleben.

 

II.

Fremdheit im System heißt aber nicht zwangsläufig Demütigung und symbolische Gewalt im Sinne des Hütchen-Beispiels – dann würde ich das Lob der Fremdheit nicht anstimmen. Fremdheit im System heißt, sich einer anderen – vielleicht befremdlichen – Logik zu unterwerfen, an deren Genese man selbst nicht beteiligt war. Andere vor einem, die man nicht einmal persönlich kennt, die vielleicht schon tot sind, haben an dieser Logik mitgeschrieben. Heteronomie nannte das Max Weber, Transzendenz im Diesseits Thomas Luckmann. Fremdheit im System liegt auch darin begründet, dass die KH als Organisation ein System ist, in dem – anders als in gemeinschaftlichen Gruppen – das  Miteinander zumeist ein Nebeneinander ist, weil einiges – sehr Unterschiedliches – gleichzeitig zu leisten und zu entscheiden ist, was sich nicht mehr durch pure Interaktion erledigen lässt. In Organisationen sind die Mitglieder durch gewisse Interdependenzen sachlich aneinander ‚gebunden‘, ohne miteinander durch eine ähnliche Lebensführung oder Gesinnung ‚innerlich verbunden‘ zu sein. Das kirchliche Arbeitsrecht wird dem Rechnung tragen: Professionalität geht nun vor Konfessionalität, Expertise vor Erotik. Von Expert:innen ist bekannt, dass sie sich eher mit ihrer Profession identifizieren als mit der Administration ihrer Organisation – Fremdheit im System. Professionelle gehen in der Regel da hin, wo sie ihre Professionalität am besten ausüben können, die Organisation insgesamt ist ihnen sekundär, so dass sie sie rasch zu wechseln bereit sind. Ihre Identifikation mit der Organisation und deren Kooperation untereinander muss auf andere Weise gefördert werden als durch Sympathie und monetäre Anreize. Das scheint der KH nicht nur in meinem Fall gut gelungen zu sein, denn viele kommen und bleiben.

Mir persönlich hat immer die Freiheit in Lehre und Forschung an der KH gutgetan, unterstützt von einer guten Hochschulleitung und Verwaltung im Hintergrund, in der Forschung nicht zuletzt von hervorragenden Akademischen Mitarbeiterinnen (wie Lucia Segler, Janka Stürner-Höld und Eva Bühler). All das waren für mich starke Anreize, gepaart mit einem Schuss Selbstverpflichtung, das zu tun, was notwendig ist und dem ‚Gemeinwohl‘ der Hochschule dient, was auch nicht mit ‚Gemeinschaft‘ zu verwechseln ist. Bedenklich empfand ich, wenn der Pegel des Risikos stieg, dass Freiheit und Selbstverpflichtung eingeschränkt oder die Wertschätzung der Geistesarbeit – und dazu gehört auch die Beratung der Studierenden und die Korrektur und Hilfe bei der Steigerung ihrer Leistungen – erkämpft werden musste. Anfangs – in den 1990er Jahren – hatten sich lange Schlangen von Studierenden vor meinem Büro gebildet, weil ich ihnen jeweils  differenzierte Rückmeldungen auf ihre Hausarbeiten und Klausuren gab, wie ich es an der Uni Konstanz, woher ich kam, gewohnt war. Doch diese Praxis von KN war an der KH fremd, wurde teilweise als Marotte eines Fremden geneidet, der gestern kam und sie schon deshalb ablegen werde, wenn er eine Zeitlang bleiben will. Wollte ich das?

 

III.

Schließlich wollte ich – obwohl ich die Umstellung auf BA- und Master-Abschlüsse für bedenklich hielt und mir viele Kolleginnen und Kollegen anderer Studiengänge und anderer Fächer immer irgendwie fremd geblieben waren. Ich habe es schon von Anfang an (bis heute) bedauert, dass die darin gegebene Inter- oder Transdisziplinarität, d.h. eine konstruktive Konfrontation mit Fremdheit, nicht besser genutzt wird: Etwa in der Lehrkonferenz, die es heute nicht mehr gibt, durch Projekte, Forschungsprojekte oder durch Kolloquien, in denen gemeinsame Themen multiperspektivisch betrachtet, also echte Dialoge geführt werden, um wechselseitig voneinander zu lernen. Solche Kolloquien wurden – auch von meiner Seite – immer mal wieder ausprobiert, aber ohne langanhaltenden Erfolg. Mit 18 Deputatsstunden ging vielen Kolleginnen und Kollegen die Puste aus. Müssten wir, so denke ich bis heute, das Erlernen von Multiperspektivität, die wir ja den Studierenden unserer Studienfächer zumuten, zu Recht zumuten, nicht vormachen, vorleben – Lernen am Modell? Hätte nicht spätestens der Missbrauch unserer ‚Mutter Kirche‘ eine günstige Gelegenheit dazu geboten, interdisziplinär zu forschen und zu beraten? Hätte sie ein solches Angebot angenommen?

Oder ist der – ja ‚Katholischen‘ – Hochschule diese Mutterorganisation fremd geworden und umgekehrt? Sehen sich nicht wenige Kolleginnen und Kollegen angesichts der unsäglichen Verbrechen dieser ‚Mutter‘ in Sachen Sex und Geld und Machtmissbrauch und ihrer damit einhergehenden moralischen Selbstbeschädigung in einem ernsthaften Dilemma zwischen Loyalität und Komplizenschaft. Manche verspüren Austrittsneigungen, die sie allerdings nicht realisieren dürfen, wenn sie nicht ihren Arbeitsplatz verlieren wollen. Eine wirkliche ‚Mutter‘ würde ihre Kinder nicht verstoßen – auch hier passt das Bild der Gemeinschaft nicht. Viele Kolleginnen und Kollegen und Studierende gehen in die innere Emigration – Fremdheit im System! Kein Lob!

 

IV.

Ja, das ‚K‘ ist ein fremdes Haar in der Suppe einer Hochschule – so empfinden es nicht wenige. Auch für Außenstehende ist das ‚K‘ ein merkwürdig fremder Buchstabe im Namen einer Hochschule. Zu einer solchen zwischen Religions- und Bildungslogik gekreuzten hybriden Pflanze wäre einiges zu sagen. Hier nur so viel: Das ‚K‘ hat an gesellschaftlicher Plausibilität verloren angesichts massiver Prozesse der Entkonfessionalisierung und Entkirchlichung. Befürchtungen sind da, dass das ‚K‘ nicht – wie Kollege Quisinsky sagen würde – für Weite und Fülle, sondern für fundamentalistische Verengungen und Verkrampfungen stehen könnte, was der Logik freier Wissenschaft widerspricht; dass es für einen Modus der geistlichen Herrschaft stehen könnte, der unter kirchlichen Mitarbeitenden generell an Akzeptanz verloren hat, erst recht unter Akademikerinnen und Akademikern und in den jungen Generationen sowieso. Ich selbst habe das ‚K‘ nie als eine Art Regelwerk verstanden, das den Leuten zeigen soll, wo es langgeht. Ich habe es als Zeichen für ein eher inspirierendes als deprimierendes Umfeld erlebt, das kreative Leute hervorgebracht hat. „Im Katholischen liegen die Spannungen“, so möchte ich den Jesuiten Friedhelm Mennekes zustimmend zitieren: „Mediterran und nordalpin. Das Heidnische und das Heilige. Das Theatralische und die Mystik. Äußerlichkeit und Innerlichkeit. Die Organisation einer besonderen Ungebundenheit des Klerus im Zölibat. Eine völlig hergeholte Form zwar, aber sie hat etwas. Der Umgang mit Rollen, mit Räumen, mit Kultur, mit Kunst […] Die Sichtbarkeit der Kirche. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Das sind die Dinge, die dem Katholischen innewohnen. Vieles davon fordert den Protest als Gegenbewegung […] Protestantismus [ist] ja nicht der historische Zufall in der Schlosskirche auf dem Wittenberger Berg“. Und Mennekes ergänzt: „Ja, katholisch sein heißt immer ‚werden‘, Das Katholische ist in seiner Weite und Offenheit so provokant, dass man eigentlich ständig dagegen angehen muss“. Mennekes skizziert hier das Katholische nicht als eine Religion, „besserwisserisch alles in die Reihe“  bringen will und kann, sondern spannend, spannungsvoll und spannungsreich. Das Fremde ist immer Teil des eigenen.

Ich könnte mir vorstellen, dass die KH ihr ‚K‘ in einem Strategieprozess selbstaktiv weiterentwickelt und zur Entfaltung bringt, statt es auszublenden und alles auf das ‚H‘ zu setzen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie damit auch eine Dynamik der Ausdeutung grundlegender Lebensfragen freisetzt, der ‚Sinnfrage‘ Raum gibt, ohne sie – dem Klischee des Religionsunterrichts ähnlich – durch Vorgaben zu beantworten. Auch wenn viele Indikatoren  empirisch dafür sprechen, die heutige jungen Leute als ‚die erste nachchristliche Generation‘ zu bezeichnen, stehen auch sie – wie freilich jede erwachsene Person – vor der Sinnfrage, die sich auf die drei grundlegenden Fragen – Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? – bezieht: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? wer sind wir?  Ich kann hier nur andeuten, was ich damit – für die Kenner:innen: im Rückgriff auf Ulrich Oevermann – meine. Gerade die Forschungen der profanen Religionssoziologie zeigen uns, dass es dabei nicht um eine intellektuelle, sondern eine lebenspraktische Frage geht: „Bei der Sinnfrage geht es tatsächlich um etwas ganz Handfestes. Es geht auf allgemeiner Ebene um die genuin praktische Frage, was tun (mit dem eigenen Leben angesichts des Skandalons des Todes)?“ (Manuel Franzmann).

 

V.

Von den Studierenden war bislang nur nebenbei die Rede. Ihre Präsenz markiert vielleicht am deutlichsten, was ich unter „Fremdheit im System“ verstehe. Sie verkörpern die institutionalisierte Fremdheit im System der Hochschule und damit einen mehr oder weniger konflikthaften sozialen Status. Freilich verbinden uns alle – Lehrende, Studierende, Verwaltende, Führende und Leitende – eine Fülle von Gemeinsamkeiten, und stets ist eine Fülle von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten gegeben. Aber eine Hochschule wählt einige dieser Verschiedenheiten aus und macht sie zur strukturellen Basis ihrer Selbstidentifikation: Keine Hochschule ohne Studierende, die sie von den Lehrenden deutlich trennt. Denn so leicht können beide nicht auf die andere Seite wechseln. Die sonstigen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen werden auf sozial verbindliche Weise unerheblich, ebenso bestimmte Verschiedenheiten, so die familialen, regionalen, nationalen oder konfessionellen Unterschiede. Markiert und dramatisiert werden dagegen funktionale Besonderheiten. Eine Hochschule steht ja für einen bestimmten Typ von Organisationen. Ihr Zweck besteht nicht – wie in vielen Vereinen – im mehr oder weniger netten Zusammensein der Mitglieder, auch nicht  ausschließlich darin, Leistungen und Außenwirkungen gegenüber Dritten zu erzeugen, die nicht Organisationsmitglieder sind: wie etwa ein Reisebüro oder die Telefonseelsorge.

Sondern: Eine Hochschule hat die primäre Aufgabe, „auf bestimmte Weise auf eine Personengruppe einzuwirken, die zu diesem Zweck – zumindest vorübergehend – in die Organisation aufgenommen”  (Renate Mayntz) wird. Zu diesem Typ von Organisationen gehören freilich auch Kitas, Schulen, Krankenhäuser und – wie Werner Nickolai ergänzen würde –  Gefängnisse.

In einer Hochschule sind die Studierenden die  ‚Vorübergehenden‘, also die, die heute kommen und morgen gehen, während die, die zurückbleiben, ihnen manchmal stolz, manchmal auch kopfschüttelnd nachblicken und dabei schon die nächste Generation von Studierenden anrücken sehen. Fremd sind die Studierenden den Lehrenden und Verwaltenden auch deshalb, weil sie ihnen neu und damit unbekannt und unvertraut sind, was auch umgekehrt gilt –  freilich auch für Neuankömmlinge unter Kolleginnen und Kollegen. Sie sind diejenigen, die fast alles, das den ‚alten Hasen‘ (ein merkwürdiges Bild), denen sie sich nähern, unfraglich erscheint, in Frage stellen. Was wissen wir schon voneinander, was wollen, was dürfen wir voneinander wissen?

Ich frage mich manchmal, wie wir mit dieser dauernden Konfrontation mit Unvertrautem umgehen, wie wir sie – auch zum Zweck der Organisationsentwicklung – besser nutzen könnten, um voneinander zu lernen, ist doch der fremde Blick ein vergleichender Blick, der mehr sieht als der unvergleichliche Blick derjenigen, die gekommen und geblieben sind. Für den französischen Soziologen Émile Durkheim war der vergleichende Blick der Königsweg der Erkenntnis. Versuchen Sie mal, die Nase Ihres Nachbarn oder Ihrer Nachbarin zu beschreiben, ohne dass sie auf eine andere blicken. Wenn Sie zwei oder drei Nasen sehen, geht es besser …

Müsste nicht gerade eine Hochschule, die an der Produktion und Vermittlung von Erkenntnissen mitwirkt, diesen vergleichenden Blick der Fremden thematisieren, kultivieren und auf sich selber beziehen? Das heißt ja auch, sich fortgesetzt enttäuschen und die Bilder zerstören, freilich auch neue entstehen zu lassen, welche eine Hochschule von sich selber hat. Liegt nicht in der institutionalisierten Fremdheit einer Hochschule eine Ressource, die anderen Organisationen fehlt? Eine Chance, das ‚Denken-wie-üblich‘ in Frage zu stellen, Gemütlichkeiten zu stören, die andere Organisationen – viele Kirchengemeinden etwa – in die Krise treiben, weil sie eine Tendenz haben, Fremdheit auszuschließen? Müssten wir nicht ein Lob der Fremdheit aussprechen und sie zum Markenkern einer Hochschule machen, Fremdheit kultivieren und ihren Ertrag evaluieren?

Müssten wir nicht, so spitze ich weiter zu, organisierte Heimat- und Gemütlichkeitskiller sein, um auch andere Organisationen – nicht zuletzt unsere Mutterorganisation – von ihrer Blindheit, Trägheit und Selbstgewissheit – von ihrer trägen, selbstgewissen Blindheit usw.  – zu befreien? Fremdheit wird von mir ja hauptsächlich als eine ganz positive Beziehung verstanden, in der Georg Simmel als eine besondere Wechselwirkungsform sah. Im Blick auf einen Stern, der bereits in der Antike als „Bringer der unerträglich empfundenen Sommerglut“ galt (Er bringe, so Homer, „ausdörrende Glut den elenden Menschen“), schrieb Simmel: Die „Bewohner des Sirius sind uns eigentlich nicht fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah. Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst“. Diese eigentümliche – für eine Hochschule typische – Relation gilt es in ihrer Ambivalenz zu gestalten.

Auffällig ist ja die Ambivalenz, die Fremdheit auslöst. Sie erscheint einerseits als Verlockung, als Aufbruch aus mehr oder weniger belastenden Gewohnheiten und Routinen, als Bereicherung und Anregung, als spannend und aufregend, als abenteuerlich und faszinierend, als Abwechselung von Langeweile und repetitiver Alltäglichkeit. Andererseits kann das Fremde auch irritieren, als Bedrohung wirken – wie der Gast, der länger bleibt, als erwartet, zum potentiellen Feind werden kann. Vom Gast zum Feind, vom hospes zum hostis, ist es nicht weit (Alois Hahn)

Aber dazwischen liegen andere Ressourcen, für die Fremdheit steht. Ich kann sie hier nur stichwortartig nennen: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, auf Anonymität, auf Schutz vor Vertraulichkeiten, vor Übergriffen ins Private. Auch steht die Möglichkeit des Fremden (eben auch der Lehrenden, eben auch der Studierenden) dafür, unparteiisch und ‚objektiv‘ zu sein. Eine Hochschule vermag Leistungsformen freizusetzen, die zu ihrer Realisierung gerade nicht persönliche Bindungen, Freundschaft oder Verwandtschaft voraussetzen.

So waren mir immer Kollegen und Kolleginnen etwas fremd geblieben, die mit allen Studierenden fraternisierten, gegendert: sororisierten. Das kannte ich von den Alt-Achtundsechzigern, zu denen ich mich definitiv nicht zähle, obwohl in der Nähe von Frankfurt, einem Hotspot dieser Bewegung geboren und aufgewachsen, wo ich auch studiert habe. Obwohl mittlerweile 68 Jahre alt, bin ich kein Alt-68er – mein Vater war nie im Krieg, was ein entscheidendes Bindeglied derjenigen Generation war, die dieses Etikett trug. So blieb sie dem 1968 Fünfzehnjährigen bei aller revolutionären Faszination (von Ernesto „Che“ Guevara usw.) weitgehend fremd, obwohl ich erleben konnte, wie der Rektor unserer Schule – der Herr Rektor persönlich – in revolutionärem Eifer unseren Unterricht unterbrach und uns dazu einlud, mit ihm zusammen ‚Sit-ins‘ zu üben.

 

VI.

Eine Hochschule steht für die institutionalisierte Fremdheit, ist kein Freundschaftsclub, auch keine Studentenverbindung, denn auch viele Studierende bleiben sich untereinander fremd,  obwohl sie miteinander mehr Zeit verbringen als mit den jeweiligen Professorinnen und Professoren. Ziemlich fremd geblieben waren mir solche Kollegen – hier muss ich nicht gendern – , die zwischen sich und den Studierenden eine scharfe Demarkationslinie zogen, sie beinahe als Feinde betrachteten, die ständig etwas im Schilde führten. Ich erinnere mich noch gut an eine Szene im Prüfungsausschuss. Eine Studentin beantragte die Ausdehnung und Unterbrechung ihrer Klausur, um ihr Kind zu stillen, was – scheinbar, anscheinend, angeblich? – just um 10 Uhr die Brust verlange. Ein Kollege meinte, darin eine Finte der Studentin zu erblicken, um während des Nuckelns spickeln zu können. Subversion! Attacke! So wurde der Antrag nur unter der Bedingung genehmigt, das Baby im Prüfungsamt zu deponieren, zu entwindeln und daraufhin zu checken, ob sich an seinem Körper ein verbotenes Hilfsmittel befände – vielleicht unter einem Pflaster oder in den noch zur Faust geballten Händen. Ob diese Studentin rascher wieder ging als sie kam, ist mir nicht mehr in Erinnerung.

Auch gab es einen Kollegen – auch hier muss ich nicht gendern – , der die Einführung von Lehrevaluationen seitens der Studierenden abzulehnen pflegte mit der Begründung, von ihnen ohnehin schlecht bewertet zu werden; würden sie ihn doch als Aggressor erleben, der er ja auch sein müsse, weil er schließlich dazu berufen sei, Studierende umzumodeln, ihr Wissen, ihr Können und ihre Einstellungen zu transformieren, was diese nicht unbedingt ästimierten. In einem gewissen Sinn hat dieser Kollege ja Recht, können wir doch als Lehrende fortgesetzte Enttäuschungen erzeugen, weil wir eben auch dazu da sind, die von den Studierenden mitgebrachten Selbst- und Weltdeutungen zu relativieren, wenn nicht zu destruieren, also die Selbstverständlichkeiten ihrer Annahmen über die Welt, das Normale, das Richtige, das Schöne, das Wohlriechende und Wohlschmeckende zu erschüttern, ihren Sozialisations- und Milieuhabitus mit seinen Vorlieben und Grenzen in Frage zu stellen und für sie neue – wissenschaftlich fundierte – Perspektiven zu eröffnen. So etwas kann Aggression und Feindschaft auslösen – hin und hergerissen zu sein, sich selbst überlassen zwischen den verschiedenen und teilweise einander fremden Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen. Dies kann freilich auch zu Schockerfahrungen führen angesichts des Plausibilitätsverlusts der kategorialen Ordnung des Daseinsverständnisses – etwa der angeblich dem göttlichen Schöpfungsplan innewohnenden bipolaren Ordnung der Geschlechter.

Was tun wir eigentlich als Hochschule, wenn seitens von Studierenden solche Erschütterungen als existentielle Einbrüche des Unheimlichen erlebt werden, weil sie der Vertrautheit mit sich selbst radikal den Boden entziehen? Was machen wir eigentlich als Hochschule, wenn wir immer noch einer binären Toilettenordnung folgen, die andere – sogar katholische – Hochschulen schon längst überwunden haben?

 

VII.

Ich selbst verstand mich weder als Freund noch als Feind der Studierenden, sondern als Zwischenfigur, sie im Rahmen der Organisation in dieser wichtigen transformativen Phase ihres Lebens punktuell so zu begleiten, dass sie selbst – mit mehr oder weniger sanften ‚Korrekturen‘ – die Richtung bestimmen können. Und die KH bot mir dafür einen hervorragenden Rahmen – bei allen schrägen Nummern und Typen, die ja in vielen Organisationen vorkommen. Und meine Familie, meine Frau und meine drei Kinder, halfen manchmal, bestimmte Dinge zu verkraften und zu Hause in erlösendes Lachen zu überführen. Klar, manchmal musste man auch wie eine Hebamme sein, Retter in der Not, hin und wieder Inspirator, freilich auch Sparringspartner, der die Studierenden herausfordert und fördert, ihr Ziel zu erreichen. Ich wusste ja, dass sie, wie sie gestern gekommen sind, morgen wieder gehen, manchmal freilich auch – wie einige, die heute hier sind – in guter Erinnerung bleiben.

Wer wünscht sich das nicht, wenigstens in guter Erinnerung zu bleiben, auch wenn er auf der anderen Seite dieser Hochschule stand und nun bald auf ihrer Homepage als ‚Professor im Ruhestand‘ konserviert, als Ehemaliger geführt wird? Vielleicht lässt sich da auf der Homepage noch ein Kasten mit guten Wünschen für die KH einrichten. Wenn ich drei frei hätte, würde ich da mein Lob der Fremdheit hineinschreiben: Aus der Interdisziplinarität schöpfen, die Feed-back-Kultur ausbauen, der Sinnfrage Raum geben.