Was gibt es heute?
Allmächtiges – oder: Das Stopfgericht

„Immer mehr Akteure streben in den Himmel“, heißt es, und ich lese zustimmend weiter: „Das schafft Probleme“. Ein neulich seliggesprochener Italiener, der hinter einer Glasscheibe sichtbar in einem Sarkophag ausgestellt ist, sprach sogar von einer „Autobahn in den Himmel“. Neulich bekannte auch der CDU-Funktionär Wolfgang Bosbach, der gar „nicht besonders fromm, aber ein gläubiger Mensch“ sein will: „Ich bin eher rheinischer Katholik: Hier unten so leben, dass man oben noch reinkommt“ (Neue Mitte 2/2020). Um die gesamte Problematik der erwartbaren Himmelstürmerei musste Joseph Ratzinger schon 1958 gewusst haben, als er an das große Gastmahl aus dem Lukasevangelium (14, 16-24) erinnerte. Das erzählt ja davon, „dass am Ende der Himmel vollgestopft wird mit allen, die man nur irgendwie auftreiben kann […] und wer wollte bestreiten, dass nicht etwa all unsere modernen europäischen Heiden von heute auf diese Weise in den Himmel hineinkommen können?“ (Joseph Ratzinger, Die neuen Heiden und die Kirche, in: Hochland 51, 1958, S. 11). An den dogmatisierten Höllenbildern von gestern festzuhalten, hindere uns „heute einfach unsere Humanität. Wir können nicht glauben, dass der Mensch neben uns, der ein prächtiger, hilfsbereiter und gütiger Mensch ist, in die Hölle wandern wird, weil er kein praktizierender Katholik ist.“ Ja, das sagt der frühe Ratzinger und spätere Papst weiter, der ja ganz entschieden eine ‚Hermeneutik der Kontinuität‘ vertritt. Auch Kontinuitäten sind nicht mehr das, was sie waren.

„Immer mehr Akteure streben in den Himmel. Das schafft Probleme“, lese ich noch einmal. Auf den zweiten Blick merke ich, dass ich in einer déformation professionelle gefangen war. Der belgische Soziologe, Daniel Warnotte (1871-1949), verstand darunter bekanntlich eine Perspektiven-Entstellung, die sich etwa bei einem Kriminologen verführerisch einstellt, wenn er in selektiver Wahrnehmung überall Verbrechen wittert. „Jeder Fachmann ist in seinem Fach ein Esel“, hatte schon Jean Paul (1763-1825) gesehen, und erzeugt mit seinen Spezialitäten das Elend des „Fachidiotismus“ (Karl Marx). Auch theologisch domestizierte und religionssoziologisch gesattelte Esel springen bei Reizwörtern wie „Himmel“ an oder lassen sich von „All-Machts“-Titeln verführen; stammt der doch vom IPG, dem Onlinejournal „Internationale Politik und Gesellschaft“, und heißt, von Ralf Nestler geschrieben, mit Untertiteln vollständig: „All-Macht. Ein neuer Run auf den Weltraum hat eingesetzt, immer mehr Akteure streben in den Himmel. Das schafft Probleme“.

Es ist also, schließe ich, der physikalisierte und damit säkularisierte Himmel gemeint und nicht das ‚Jenseits‘, das ja erst – als Begriff – Ende des 18. Jahrhunderts kreiert wurde (s. Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit, hg. von Lucian Hölscher, Göttingen 2007) und an die Stelle des ‚Himmels‘ getreten ist, nachdem der naturwissenschaftlich ‚besetzt‘ wurde. Aber hat nicht noch Georg Simmel beides gemeint, wenn er schreibt: „Dass alle Menschen gleichzeitig den Himmel sehen können und die Sonne, das ist, wie ich glaube, ein wesentliches Moment des Zusammenschlusses, den jede Religion bedeutet. Denn jede wendet sich irgendwie, ihrem Ursprung oder ihrer Ausgestaltung nach, an den Himmel oder die Sonne, hat irgend eine Art von Beziehung zu diesem Allumschließenden und Weltbeherrschenden“ (Georg Simmel, Soziologie, Leipzig 1908, 655). ‚Allumschließendes‘ … da ist sie schon wieder: die ‚All-Macht‘ …

Es gibt ausgesprochen religiöse Menschen, die zwischen dem ‚Jenseits‘ und dem ‚Himmel‘ – den ‚Himmeln‘ – keinen Unterschied machen, auch kaum einen zwischen dem physikalischen Himmel und dem religiösen Jenseits. So glauben bestimmte Evangelikale, die auch Trumpisten sind, an „Entrückungen“, also daran, dass „mitten im Flug eine Reihe von Passagieren verschwinden“ könne, indem ihr Körper „auf einen Schlag aus der weltlichen Realität entfernt und in die glorreiche Sphäre des ewigen Lebens transponiert“ werde (Mark Juergensmeyer, Religion als alternative Wirklichkeit, in: Krieg und Religion. Erkundungen einer ambivalenten Verbindung, Freiburg, 88). Der Übergang zwischen irdischer und himmlischer Wirklichkeit ist für sie also kürzer als ein Katzensprung.

Schlagartig, als kürzer als bei einem Katzensprung, kann es auch im Kopf zugehen. Was in Nestlers Beitrag über den astronautischen Himmel steht, will in meinem Kopf auch für den religiösen Himmel gelten, zumal dann, wenn man die déformation professionelle bewusst fortsetzt, wie in einem ‚Ristorante il purgatorio‘ ja kaum anders erwartbar. Jeder ist in seinem Restaurant ein Esel. Über Raumfahrtbilder – Katzensprung: Himmelfahrtsbilder – heißt es bei Nestler: „So eindrücklich sie sind, meist sind sie schon älter. Gegenwärtig ist mit den Aktivitäten […] kaum Aufmerksamkeit zu gewinnen“. „Der Eindruck, dass da […] kaum noch Bedeutendes passiert, trügt. Insbesondere bei der nicht-astronautischen Raum[spring: Himmel]fahrt gibt es erhebliche Fortschritte  […]: Die Zahl […] der möglichen Dienstleistungen nimmt gerade jetzt enorm zu, […] wird […] immer billiger“. Es „gewinnen kommerzielle Akteure zunehmend an Bedeutung“. Da bietet ein kommerzieller Himmelfahrtunternehmer „preiswerte Starts an und setzt die Konkurrenz unter Druck, auch die mit beträchtlichen Staatsmitteln unterstützte […] Hier zeichnet sich ein erhebliches Problem ab. Weil die Starts für immer mehr […] erschwinglich werden, wird es […] immer voller“. Ja, das hatte Ratzinger schon vorhergesagt.

Es „kreisen dort auch ausgediente Geräte, Reste von Raketenstufen und zig kleine Trümmer, die aus Zusammenstößen hervorgehen“. Vollgestopft auch noch mit Sachen! „Fachleute fürchten eine Kaskade, bei der sich der […] Raum durch immer häufigere Crashs selbst zumüllt und günstig gelegene Umlaufbahnen unbenutzbar werden“. „Um dies zu vermeiden, wird einerseits die Überwachung ausgebaut: Spezielle Radargeräte scannen den Himmel nach Trümmern ab, um überhaupt zu wissen, wo Gefahr droht.“ Ich wusste es, geistliche Säuberungsaktionen stehen an; denn wenn der Himmelsraum, heißt es weiter, „auch für künftigen Generationen nutzbar bleiben soll, müssen Regeln her, um Müll zu vermeiden. Denkbar sind Bußgelder für absichtliche Verschmutzung etwa durch einen gezielten Abschuss“. Aber wer hört noch Beichte, wer geht da noch hin und geht aus einem Möbelstück der Barockzeit mit Bußwerken raus? Noch, so heißt es, sei „es verlockend, alte Geräte über die geplante Lebenszeit hinaus zu betreiben, um weiter damit Geld zu verdienen. Sind sie eines Tages manövrierunfähig, ist es zu spät.“

„Wichtige Impulse könnten“, so schreibt Nestler, „aus den Missionen […] kommen, […] die mit spektakulären Aufnahmen die Raumfahrt wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken“. Bei all diesen Dingen mit und ohne Seele „schwingt die Frage mit: Wie lassen sich die Aktivitäten so organisieren, dass sie ein gedeihliches Miteinander ermöglichen?“ „Allein ist das auch für eine Großmacht kaum zu schaffen und Kooperationen erscheinen äußerst ratsam […] Zum Wohl der Menschheit“.

Kommen wir denn alle „oben noch rein“, alle, alle, alle in den ‚Himmel‘, geht er über allen auf, die danach streben? Ob wir selig sind oder nicht? Früher nicht, heute so und morgen anders! Überlassen wir es der Allmacht statt der All-Macht, dass und wie „am Ende der Himmel vollgestopft wird“ mit allem und „allen, die man nur irgendwie auftreiben kann“. Mülltrennung erst dann!