Was gibt es heute?
Tutti frutti – oder: Das Gericht der Hoffnungen

Dass der Papst nicht vom Weltuntergang spricht, erstaunt. Denn so düster, wie er seine gegenwärtige globale Umwelt beschreibt – Umwelt im sozialwissenschaftlichen Sinn (tutti fratelli) und Umwelt im naturwissenschaftlichen Sinn (tutti frutti) – müsste eigentlich das Ende nahe sein – alles ist ja mit allem ‚vernetzt‘. Nein, sagt der Papst, da gibt es nicht nur Angst, sondern Hoffnung. Umso drastischer er das Dunkel beschreibt, umso heller soll sein Angebot der Hoffnung aufscheinen. Umso pathozentrischer seine Zeitdiagnose, um so leidfreier das christliche Erlösungsangebot einer universalistischen Brüderlichkeitsethik. Die ist ja nicht neu. Aber: Ist Familialismus die Lösung, ist Freundschaft Erlösung, ist Interaktion der Schlüssel für Organisation und Gesellschaft, ja Weltgesellschaft? Kann der religiöse Liebescode die Codes der anderen Funktionsbereiche der Gesellschaft, also von Wirtschaft, Politik und Recht knacken? Schon Max Weber hatte hier eher Hochspannung statt Entspannung gesehen. Wer – ob zu Recht oder nicht – einen Kardinal nach dem anderen (Müller, McCarrick, Becciu), wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, feuert, folgt offensichtlich anderen Logiken – Logiken der Organisation und des Rechts – als der Logik der Brüderlichkeit. Mit Brüderlichkeit oder – so heißt die ins Deutsche inkulturierte Übersetzung – mit Geschwisterlichkeit allein kommt man in komplexen Gesellschaften nicht weiter. Nicht einmal in Familien, wo es ja auch noch Eltern und Kinder gibt.

Jenen Dualismus kirchlicher Fremd- und Selbstbeschreibung sind wir – nicht nur in Deutschland – gewohnt. Und wir sind es auch gewohnt, dass bestimmte Akteure in der Kirche ihre eigenen Deutungsmuster nicht hinterfragen und keine Aufmerksamkeit aufbringen für die Kontingenz der eigenen Perspektive. Wer so düster den Sumpf der Umwelt beschreibt, in dem er selbst steckt, kommt nicht weiter – weiß er eigentlich, wie Menschen, für die Kirche Umwelt ist, diese beschreiben? Und je mehr man die Katastrophen im Außen wähnt und ihm romantische Metaphern der „sozialen Freundschaft“ zur Lösung anbietet, ohne die massiven sozialen Feindschaften im Innern der Kirche zu erwähnen, desto eher läuft man ins Risiko einer ‚kognitiven Selbstverschleimung‘ (Rainer Mario Lepsius). Prangerte „Unsere Hoffnung“ der Würzburger Synode vor 45 Jahren noch die „Bedürfnisgesellschaft“ an, welche den Menschen auf ein materialistisches Etwas reduziere und seine wahre – nur theologisch erschließbare – Sehnsucht verdecke und verdränge, ist es nun (wieder) die päpstliche „Wegwerfgesellschaft“, die auch den zum Etwas gewordenen Menschen wie ein Ding entsorge. Es geht also nicht nur mit bestimmten lebendigen Kardinälen und mit dem Ruf toter Ordensgründer (Marcial Maciel Degollado; Josef Kentenich) rasant bergab, sondern mit den Menschen überhaupt. Aber der päpstliche Gott eilt nicht auf uns zu, um das Ganze zu Ende zu bringen. Die Wiederkunft Christi wird – mal wieder – vertagt, die Niederkunft der Mutter Kirche gebiert – mal wieder – ein Hoffnungskind.

Das sehen evangelikale Christen und Christinnen, die „das einzige Segment der organisierten Religion“ repräsentieren, „das in den Vereinigten Staaten gewachsen ist“ (Mark Juergensmeyer, Krieg und Religion. Erkundungen einer ambivalenten Verbindung, Freiburg 2019) ganz anders – ihre – ebenfalls christliche – Hoffnung speist sich der Erzählung von der Imminenz des Einbruchs des göttlichen Jenseits ins Diesseits, wie sie im neutestamentlichen Buch der Geheimen Offenbarung enthalten ist. Diesem Buch geben sie einen göttlich verbürgten Wirklichkeitsakzent. Für sie ist es als ‚Wort Gottes‘ gewiss, dass hinter, über oder unter den oberflächlichen Erscheinungen des Alltagslebens andere ‚Wirklichkeitsschichten‘ existieren. Zu der stark jenseitsbezogen ausgerichteten Denk- und Handlungspraxis der Evangelikalen und Bibelfundamentalisten gehört, Bibelpassagen nicht nur zu erinnern, sondern auch insofern dramatisch zu aktualisieren, indem sie unterstellen, in ihnen eindeutige politische und gesamtgesellschaftliche Bezüge zu finden. So sind sie davon überzeugt, dass Gott Naturkatastrophen, Pandemien und andere ‚Tribulationen‘ „auf die Erde gesandt hat, um die Sünder für ihre törichten Wege zu bestrafen“, dass also „eines Tages ein Jüngstes Gericht kommt“ und „die Gläubigen erlöst werden, während die Ungläubigen und Sünder bezahlen“ (ebd., 102) und – wie die Homosexuellen  – im ewigen Feuer schmoren müssen. Christliche Hoffnung für alle oder christliche Hoffnung für wenige? Das Christentum bringt offensichtlich unterschiedliche Früchte der Hoffnung hervor.

 

Der Katholizismus steht dem selbst nicht nach, tutti frutti auch hier. Katholisch heißt ja auch Fülle, ‚complexio oppositorum‘. Was Gerhard Kardinal Müller im gleichnamigen Buch „Die Botschaft der Hoffnung“ nennt, 2016, 40 Jahre nach „Unsere Hoffnung“ der Würzburger Synode, ist weder die Hoffnung vieler amtstragenden und interaktiven Kirchenmitglieder hierzulande, noch die Hoffnung des Papstes, mit dem er sich auf dem Buchcover (damals noch) abbilden lässt. Wir müssten „erkennen“, sagt der Müller martialisch, „dass die Präsenz des Christlichen in der heutigen Welt, wenn seine bildende und formende Kapazität nicht angenommen wird, eine Präsenz des Widerstands oder sogar des Martyriums ist“. „Nur die Hirten haben das Charisma der Unterscheidung“ und sie „wirken Gott, weil wir wirken, was Gott will“, sagt der Oberhirte weiter. „Früher wusste man in Rom und sich selbst prägnanter zu unterscheiden“, sagt der Graf – Friedrich Wilhelm Graf in seiner FAZ-Rezension vom 8.Oktober 2016.

 

Am Schluss bleibt mein Frage: Welche der Hoffnungen, welche der christlichen Hoffnungen, welche der katholischen Hoffnungen soll mir Hoffnung geben und mein Leben orientieren? Kann ‚unsere Hoffnung‘ ‚meine Hoffnung‘ sein und umgekehrt? Geht Hoffnung im Fragment? Keine der Hoffnungen ist innerkirchlich, innerchristlich oder gar interreligiös oder überweltanschaulich konsensfähig. Übrig bleiben immer wieder „rivalisierende Ansichten über die Ordnung der Dinge, die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, die Beurteilung von Handlungen und die Lenkung von Gesellschaften“, notierte einmal einer der bedeutendsten Ethnologen, Clifford Geertz, schon vor 25 Jahren (Welt in Stücken, Wien, 3. Auflage 2014). In einer zersplitterten Welt, einem Christentum in Stücken und einer fragmentierten Kirche mit einer zerstückelten Hoffnung stimme ich ihm zu: „Nicht um den Konsens geht es, sondern um einen gangbaren Weg, ohne ihn auszukommen“.