Was gibt es heute?
Schnittchen – oder: Das Körpergericht

In der Regel wird bei einem Facelifting versucht, „die Alterungsschraube um 10 bis 15 Jahre zurückzudrehen“, und das Ergebnis ist „kein Dauerzustand“. Bei einem umfangreichen Facelifting kann man „mit einem Verjüngungseffekt die nächsten 7 bis 10 Jahre rechnen.“  So werden wir auf einer einschlägigen Seite eindrucksvoll belehrt (www.facelift.blog/news/wie-lange-haelt-ein-facelifting/). 10 Jahre – war da nicht was?

Ja, da war was. Ein deutscher Erzbischof berichtet jüngst davon, dass es üblich war, aus dem kirchenrechtlich vorgeschriebenen Geheimarchiv die dort gelagerten „Akten nach zehn Jahren durchzuschauen und zu vernichten“. Das waren insbesondere Personalakten, also „die delikaten Fälle: Es war all das, was nicht vorkommen sollte“, sagt der Erzbischof. Es sind kontrollierte, registrierte und dokumentierte – sanktionierte? – Devianzen; darunter Fälle sexueller Gewalt im Beichtstuhl mit anschließender gemeinsamer Messfeier, die als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ bezeichnet wird. Kann es sein, dass auch Organe der Kirche mit der Aktenvernichtung alle zehn Jahre einem Facelifting unterzogen wurden, damit sich der Kirchenkörper verjüngt?

Eine solche Antwort wäre ziemlich schräg, da sie dem Kirchenkörper zum einen unterstellt, er wolle sich verjüngen. Die Kirche braucht das ja nicht, denn sie „blüht in immerwährender Jugend“ (Papst Johannes XXIII.). „Die Kirche ist immer jung“, wie der im badischen Pfullendorf geborene Hugo Rahner ausführte (Jakob Brummet, Die Kirche ist immer jung. Ein Buch der Hoffnung, München 1960). „Sündigen macht uns alt, der Heilige Geist macht uns immer jung”, so Papst Franziskus im Mai 2019. Jene Antwort wäre auch deshalb schräg, weil sie zum zweiten unterstellt, die Kirche hätte den revolutionären historischen Weg zum heutigen „Körper als Ware“ vollzogen.

Diesen Prozess der Körperrevolution gliedert Jutta Franzen (Fröhliche Chirurgie oder wie der wahre Körper endlich zur Ware wurde, in: Baden in Schönheit, Baden-Baden 2020) in vier Phasen: Am Anfang gab es Vorstellungen eines göttlich geschaffenen „wahren Körpers“ (1), seit dem späten 18. Jahrhundert dann das Bild des Maschinenkörpers (2), der als „Organmaschine“ genauso produktiv und effizient arbeitet wie die seinerzeit aufkommenden industriellen Organisationen. Dieser Phase folgte das Bild des schönen Körpers (3), unterstützt zum Beispiel durch „subkutane Prothesen“ und Nasenkorrekturen, die nach hässlichen, mit einem ‚Profilometer‘ gemessenen Abweichungen von der Normalnase vorgenommen wurden. Damit war die vorläufig letzte Phase des „Selfmade-Körpers“ (4) vorbereitet, in der die Verbreitungsmedien und eine Wunscherfüllungsmedizin eine Vielfalt von Optionen zur körperlichen Selbstmodellierung und Selbstoptimierung und die Vorstellung eines „erst herzustellenden Körpers“ vermitteln. Gegessen wird heute nach Signalen von Apps, damit kein Körperfett entsteht, wuchernder Bauchspeck wird abgesaugt und bestimmte Körperteile werden gestrafft und geglättet oder einfach weggeschnitten und schließlich ersetzt. Die Branche boomt seit Jahren: Körperwunscherfüllungschirurgen berichten, dass ihnen immer häufiger digital bearbeitete Bodybilder vorgelegt werden, in die Kund*innen – zumeist junge Frauen – die Änderungen bereits eingekreist und diejenigen Stellen markiert haben, wo die  Schnitte und Schnittchen gesetzt werden sollen.

Diese Entwicklung zum Multioptionskörper in der Multioptionsgesellschaft, die Vorstellungen „des wahren Körpers aus religiösen, mythologischen und natürlichen Bindungen herausgelöst hat“ (Jutta Franzen), hat der Kirchenkörper ersichtlich nicht mitvollzogen, obwohl auch er seine hässlichen Seiten hat, seine ‚Mackeln‘, wie man früher sagte. Schließlich wurde schon auf der Würzburger Synode der 1970er Jahre von einer „sündigen Kirche“ gesprochen. Nein, aus dem Kirchenkörper ist keine ‚Organmaschine‘ geworden – sehr produktiv ist die „behördliche Organisationsform der Kirche“, wie es auf der gleichen Versammlung hieß, bis heute ja nicht. Eher noch zeigt er sich – wenn römisch-katholisch – als sinnlicher ‚schöner Körper‘, der sogar Leichenteile, Reliquien genannt, ausstellt und – s. Kapuzinergruft in Rom – mit menschlichen Knochen spielerisch Räume verzieren kann: Das sind „Dinge, die bleiben“, wie ein neuer Buchtitel über schöne Reliquien heißt. Aber man kennt ja auch bestimmte kirchliche Kreise mit ihrer „Vorliebe für den Brokat und für die exzellente Spitzenarbeit liturgischer Gewänder“ (Ottmar Fuchs).

Schon gar nicht will der Kirchenkörper die vierte Phase der Körperrevolution zu einem ‚Selfmade-Körper‘ durchlaufen, wenn auch auf synodalen und anderen Wegen – nicht nur von jungen Frauen – deutliche Änderungen und Stellen markiert werden, wo die Schnittchen (der Amtstitel) und die Schnitte am sakral gedachten Organismus gesetzt werden sollen. Nein, der hohe Klerus blockiert die Revolution des Kirchenkörpers. Selbstoptimierung ist nicht sein Ding, obwohl das Bindegewebe des Kirchenkörpers nachlässt.

Er will den Sakralkörper der Kirche erhalten und in der vorrevolutionären Phase belassen. In dieser Phase „bahnt“, so Jutta Franzen, „der Schamane mit dem Schnitt in den Körper einen Ausweg für die bösen Geister, von denen er den Körper befreien will“. Einen ähnlichen Schnitt in den Körper der Kirche scheint der Hamburger Erzbischof zu meinen, wenn er von der wiederkehrenden Aktenvernichtung als „Ritus“ spricht. Ja, von Ritus spricht der Heße: „Es gab den Ritus, die Akten nach zehn Jahren durchzuschauen und zu vernichten. Ich habe das einmal erlebt und mir zunächst noch wenig dabei gedacht“.

Ja, so ist das manchmal mit dem Kopf, wenn er, von Weihrauch umnebelt und Gesängen beschallt, in die Choreographie von repetitiven Bewegungen, Gestiken und Haltungen aus „liturgischen Zeremonien und Formvorschriften“ eintaucht. Das ist nämlich die kirchenrechtliche Definition von ‚Ritus‘, der nicht einfach mit einem ‚Ritual‘ (wie das Zähneputzen oder Grüßen im Alltag) gleichzusetzen ist. Wie der Kirchenkörper für die Einzelpersonen den einen oder anderen Ritus, seine vorgeschriebenen Zeremonien (Beichte, Exorzismus, Taufe) hat, hat er solche anscheinend auch für sich selbst. Als kleiner Messdiener konnte ich freilich einen solchen Trennungsritus der großen Aktenvernichtung des kirchlichen ‚middle managements‘ kein einziges Mal erleben, aber ich denke mir inzwischen viel dabei.

„Plötzlich so viel Schmutz“ in der Kirche, hatte Joseph Ratzinger, der frühere Papst, im Oktober 2010 ausgerufen, „so dass vor allem das Priestertum plötzlich als ein Ort der Schande erschien …“. Ja, da war doch was vor zehn Jahren. Da wurde der Ritus der Aktenvernichtung gestoppt, zumindest im Erzbistum Köln, sagt Heße, der frühere Personalchef dort. Ohne Magie der Aktenvernichtung war der Akten-Druck aus den Geheimarchiven nicht mehr auszugleichen: „Es war wirklich fast wie ein Vulkankrater, aus dem plötzlich eine gewaltige Schmutzwolke herauskam, alles verdunkelte und verschmutzte …“.  Der Körper der ‚immer jungen Kirche‘ sieht nicht nur alt aus, sondern auch schmutzig, sagt der damalige Papst. Ein weißes Gewand trägt er immer noch.