Was gibt es heute?
Euseb – oder: Das Strafgericht

Wer Putin verstehen will, ohne sich unter die verbleibenden ‚Putinversteher‘ einzureihen und den kriegerischen ‚Putinismus‘ zu legitimieren, und wer die Verteidigung der Invasion in die Ukraine und der Verbrechen in Belarus durch den Patriarchen von Moskau und andere russische Hierarchen (Kriegsdienst ist „Nächstenliebe nach dem Evangelium“) verstehen will, ohne damit die Moskauer Orthodoxie zu verteidigen, wird auf die historischen Wurzeln in der byzantinischen Staats- und Kirchenidee verweisen müssen. Diese wurde im Umkreis von Kaiser Konstantin geschaffen und ist eine total andere, als die, die dann in Rom – im ‚Westen‘ – entwickelt wurde. Sie ist auch nicht einfach als die Idee einer ‚Partnerschaft von Staat und Kirche‘ zu bezeichnen.

Die byzantinische Staats- und Kirchenidee geht auf Eusebius von Caesarea (+339) zurück und besagt, dass das politische Reich und die Reichskirche inniglich zusammengehören. Sie war die offizielle Ideologie bei der Gründung von Konstantinopel (330), die den Titel ‚Neues Rom‘ – auch ‚Zweites Rom‘ – erhielt. Konstantinopel wurde zur neuen christlichen Hauptstadt ohne heidnische Tradition des Imperiums, „die einerseits dem alten Rom an Herrlichkeit nichts nachgeben sollte, andererseits von den dämonischen Mächten der Vergangenheit Roms unbelastet war und so einen neuen Mittelpunkt sowohl des christlichen Imperiums wie der christlichen Reichskirche bilden sollte“ (Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche, München 1971). In dieser Staats- und Kirchenidee steht der Kaiser als Stellvertreter Gottes im Mittelpunkt (nicht, wie im ‚Alten Rom‘ der Papst, der in die Fußstapfen des  römischen Kaisers trat), umgeben von den Bischöfen. Dieses ‚caesaropapistische‘ Bild ist, so Ernst Benz weiter, „das Urbild des christlichen Kaisers für das Geschichtsbewusstsein, das Staatsbewusstsein und die Kirchenidee der Orthodoxie geworden“. Der Kaiser ist Schirmherr der Kirche und Wahrer ihrer Glaubenseinheit, der im göttlichen Auftrag „mit göttlicher Rüstung bewaffnet die Welt von der Rotte der Gottlosen reinigt“, so heißt es bei Eusebios. Die Führer der Kirche beschränken sich auf die geistliche Kommunikation, nicht zuletzt auf die Liturgie, können den Kaiser als einem ‚Sohn der Kirche‘ aber auch ins Gewissen reden und für die Wahrheit der heiligen Lehre Zeugnis ablegen. Auf diese Weise soll ein Bild der harmonischen ‚Symphonia‘ zwischen Politik und Religion entstehen, das freilich die rechtliche und politische Unabhängigkeit des Patriarchen – etwa im Stil des römischen Papsttums – undenkbar macht. Bis heute ist unklar, weshalb schon Augustinus, der seine ganz andere Idee von der Kirche als Gottesstaat zwischen 412 und 426 entwickelte, den neu entstandenen „Mythos des ‚neuen Rom‘ ignoriert“, schreibt Ernst Benz. Stattdessen entwickelte sich „ein typisch westlicher, dogmatisch bedingter Geschichtsmythos“, demzufolge Konstantinopel als die Metropole des oströmischen Reiches „sich dem römischen Primat nicht gefügt hat“ und auch dogmatisch einen Sonderweg beschritten habe.

So entstanden konkurrierende Geschichtsinterpretationen mit zwei widersprüchlichen Staats- und Kirchenbildern, die sich immer weiter gegeneinander verhärteten, zumal das ‚erste Rom‘ von den Germanen erobert wurde, was seitens des ‚zweiten Rom‘ (Konstantinopel) als Rache Gottes interpretiert wurde und seinen Anspruch auf Vorrang vor dem alten Rom untermauerte. Nun wurde aber auch die Stadt am Bosporus, bereits durch den vierten ‚katholischen‘ Kreuzzug (1206) geschwächt, militärisch erobert (1453) und war unter Sultan Mehmed II. in die Hände der Osmanen geraten. Das heiligste Gotteshaus des zweiten Rom, die Hagia Sophia, wurde in eine Moschee verwandelt. So blieb allein das Großfürstentum Moskau „als die letzte politisch selbständige orthodoxe Macht übrig. Die Eroberung von Konstantinopel hatte für das kirchliche und geschichtliche Selbstbewusstsein des Moskauer Reiches ähnliche Folgen wie die Eroberung Roms durch die Germanen seinerzeit für das geschichtliche Selbstbewusstsein von Byzanz gehabt hatte. Nun erhielt das russische nationale und kirchliche Bewusstsein“, so Ernst Benz, „einen gewaltigen geistigen Auftrieb durch den Gedanken von Moskau als dem ‚dritten Rom‘“, wo „dem russischen Zaren selbst die Rolle eines neuen Konstantin“ zufiel. Wichtig ist, dass in den widerprüchlichen  Geschichtsinterpretationen der Gedanke des Abfalls eine leitende Bedeutung erhielt. Wie der Vorwurf des Abfalls des ersten Rom vom wahren Christentum den Vorrang des zweiten Rom (Konstantinopel) legitimierte, so erscheint die mit der Eroberung Konstantinopels einhergehende „Vernichtung von Byzanz als das göttliche Strafgericht für die Häresie der byzantinischen Kirche“.

Auf russisch-orthodoxem Boden entwickelte sich über die Jahrhunderte hinweg, beschleunigt durch den Sieg über Napoleon, das Sendungsbewusstsein, der von Gott selbst berufene Retter Europas (!) gegen den Westen (!) zu sein, der sich aus dieser Perspektive als eine faulig-dekadente Mischung aus lateinischen, protestantischen, freikirchlich-amerikanischen Werten und Werten der französischen Aufklärung darstellt. Dass sich die Ukraine innerhalb Europas, zu dem auch Russland gehört, ‚westlichen‘ Werten annähert, vermag das ‚dritte Rom‘ nur als Verrat zu deuten – als doppelten Verrat zum einen der Wurzeln der byzantinischen Staats- und Kirchenidee, zum anderen an der Dreieinigkeit des ‚dritten Rom‘, zu dem außer Russland und Weißrussland eben auch das ukrainische ‚Kleinrussland‘ gerechnet wird. Denn seit je leitete sich Russland als politische Einheit vom ersten Staat, der sogenannten Kiewer Rus, ab, von der offiziellen russisch-orthodoxe Kirche als ‚Heilige Rus‘ bezeichnet. „Dieses frühmittelalterliche Reich erlebte seinen Höhepunkt im 10. Jahrhundert. Kiew wurde zum wichtigsten Machtzentrum in Osteuropa. Nach der Christianisierung im Jahr 988 entstanden dort die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster […] Nicht nur die russische Geschichtsschreibung, sondern auch die russische Staatssymbolik geht heute von einer Herrschaftstradition aus, die von der Kiewer Rus über das Moskauer Fürstentum, das Zarenreich der Romanows und das Sowjetimperium direkt zur Russländischen Föderation führt“, so Ulrich Schmid in seiner lesenswerten Studie (Ukraine zwischen Ost und West. Vontobel-Stiftung 2015: https://www.vontobel-stiftung.ch/DE/Schriftenreihe#%20publikationen.

Der unterstellte ‚Verrat‘ nimmt hier sowohl die Form der Häresie als auch der Apostasie an: Als ‚Apostatin‘ ist die Ukraine, so der russische Vorwurf, dabei, die dreieinige Familie der russischen Brüder zu verlassen, um zum Feind überzugehen (nicht zum europäischen, sondern zum ‚westlichen‘); als ‚Häretikerin‘ bietet sie innerhalb der dreieinigen Bruderschaft Alternativen – etwa demokratische Alternativen – an, wo diese Alternativen negieren und unterdrücken möchte (wie vorläufig in Belarus mit Gewalt erreicht). Häresie schafft Verwirrung, und ihre „Handlungen werden deshalb als Versuch unternommen, die Grenzen niederzureißen“; denn konfliktsoziologisch ist bekannt, „dass ein Konflikt leidenschaftlicher und radikaler ist, wenn er aus engen Beziehungen entsteht […] In Konflikten innerhalb einer engen Beziehung hasst die eine Seite die andere um so stärker, je mehr sie als Bedrohung der Einheit und der Gruppenidentität erscheint“ (Lewis Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied/Berlin 1972). Und dem Schutz dieser Identität sieht sich auch der orthodoxe Patriarch von Moskau verpflichtet.

Es bringt nichts, den ‚Zaren‘ Putin zu psychopathologisieren und seinen Patriarchen Kirill moralisch zu stigmatisieren. Hinter dem von einigen behaupteten Wahnsinn liegt Sinn, alternativer mythologischer Geschichtssinn, wenn er auch gewaltsamer Gegenwarts- und riskanter Zukunftsunsinn ist. Putin vertreibt und vernichtet die verwestlichten Ukrainerinnen und Ukrainer, um den heiligen Boden Kleinrusslands mit denjenigen Brüdern zu besiedeln, die sich seiner Geschichtsinterpretation fügen und das Bild der harmonischen ‚Symphonia‘ zwischen Politik und Religion unter der Führung des ‚dritten Rom‘ bestätigen. Dass die ukrainischen Historiker ihrer Geschichte einen anderen Sinn unterlegen, gilt ihnen doch die Kiewer Rus als Vorläuferin des ukrainischen Staates, dessen politische Unabhängigkeit erst 1991 erreicht wurde, steht auf einem anderen Blatt. Das gilt auch für die Vertreter der – aus russischer Sicht – abtrünnigen ‚Orthodoxen Kirche der Ukraine‘ . Welche der Sinndeutungen sich als faktisch geltende Wirklichkeit durchsetzt – darüber haben in der Geschichte nicht selten Waffen entschieden. Das ist nicht zynisch gemeint, aber traurige Realität, die nach der Hölle ruft und zum Himmel schreit, zumal weder der Papst im ‚ersten Rom‘ noch der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, des ‚zweiten Rom‘, in Frage kommt. China? Eigentlich verstand sich Moskau einmal auch als das gegen Asien gerichtete östliche Bollwerk der Christenheit.