Was gibt es heute?
Maria – oder: Das Kriegsgericht

Jüngst stiftete Kirill, der Moskauer Patriarch, Wiktor Wassiljewitsch Solotow, seit 2016 Oberbefehlshaber der in der Ukraine kämpfenden russischen Nationalgarde, eine Marienikone, um junge Soldaten zu inspirieren, das Vaterland zu verteidigen. Solotow ist wie Putin ein KGB-Gewächs und dessen Sparringspartner im Boxen und Judo. „Ich werde ein saftiges Schnitzel aus Ihnen machen“, hatte er einst gesagt – weder zu Putin noch zu Kirill, sondern zu Alexej Nawalny, den er – wie seinerzeit im Zarenreich – zum Duell aufgefordert hat. Was aus der Marienikone wurde, die der Angreifer an heiliger Stätte, in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, entgegennahm und ihm den Sieg in der Ukraine bringen soll, ist nicht überliefert. Mir ist auch nicht bekannt, was aus der Marien-Ikone geworden ist, die Putin bei seinem Rombesuch 2013 dem Papst überreicht hatte und beide küssten.

Inzwischen hat auch Papst Franziskus Maria ins aktuelle Kriegsgeschehen eingebracht. Für den 25. März 2022 nachmittags hat er alle Bischöfe, alle Gemeinschaften und alle Gläubigen der römisch-katholischen Kirche eingeladen, weltweit mit ihm „die Weihe Russlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens zu vollziehen. Der Papst wird das im Petersdom tun“, schreibt die Tagespost (24.03.2022), „sein Sondergesandter, Kardinal Konrad Krajewski, in Fatima“. Der Essener Bischof Overbeck werde die Weihe „zudem auch in seiner Funktion als Militärbischof vornehmen“. Viele andere Bischöfe in Deutschland sind dabei, „den Akt des Heiligen Vaters mitzuvollziehen“, und bringen damit zum Ausdruck, was der Papst eigentlich unter Synodalität versteht, meint die Tagespost weiter: Dieser Akt stelle „einen wohltuenden Kontrast zur Vereinnahmung Mariens für die Politik des Kreml durch den Moskauer Patriarchen“ dar.

Es gibt in der Tradition des Christentums so etwas wie ein Wenn-Dann-Schema, wenn es um Krieg geht: Wenn Krieg, dann Maria. „Das feste Schwert, das Maria uns in die Hand gibt, ist der heilige Rosenkranz […] Schließt Euch zusammen zum großen marianischen Kriegsheer“, schrieb ein Ordensmann im 1. Weltkrieg in der Zeitschrift ‚Skapulier‘: „Wandelt würdig als Helden und Heldinnen eurer himmlischen Heerführerin Maria und ihr werdet für Euch, für die heilige Kirche, fürs Vaterland Sieg, Heil und Frieden erkämpfen“ (zitiert n. Klaus Schreiner, Maria, in: Christoph Markschies, Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums 2010).  Maria hatte schon Jahrhunderte früher eine symbolische Funktion in der Formierung und Festigung der frühneuzeitlichen ‚Nationalstaaten‘ erhalten. So hatte schon Ferdinand II. als Landesfürst (1598/1600), als König von Böhmen (1617) und von Ungarn (1618) und schließlich als Kaiser (1619-1637) die Gegenreformation durchgeführt und in Maria die „Magna Mater Austriae“ propagiert. Kaiser Ferdinand III. (+1657) entschloss sich dann 1647, „das gantze Land under den schutz, schirm und patrocinium glorwürdigster Jungfrauen Mariae zu devocieren undt einzuverleiben“ (Klaus Schreiner). Etwa zur gleichen Zeit (1. Februar 1647), als die feindlichen Heere auch in Tirol einzufallen drohten, verpflichteten sich die Tiroler Landstände in Innsbruck, eine Kapelle unter dem Namen und Bildnis ‚Mariahilf‘ zu errichten, wenn Tirol  vor den Wirren des Dreißigjährigen Krieges verschont bliebe.

‚Maria-Hilf‘ wurde den Gläubigen keinesfalls nur ‚von oben‘ auferlegt. Die Gefahren des Dreißigjährigen Kriegs hatte die kollektive Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung ohnehin schon gesteigert. Als „dann ab 1630 die schwedischen Truppen wiederholt bis unmittelbar vor Passau und an die österreichische Grenze vordrangen, hatten die Gläubigen Grund genug, den Schutz der Himmelskönigin zu erflehen“, schreibt Walter Hartinger (Mariahilf ob Passau. Entstehung und Verbreitung einer volkstümlichen Wallfahrt und Andachtsform 1984).  So konnte auch die Abwendung des schwedischen Vormarsches (1633) auf die Wirkung Marias zurückgeführt werden. Es war ein traditionelles Narrativ geworden. Mit der Wortverbindung ‚Schutz suchen‘ (patrocinium quaerere) hatte schon seit dem ausgehenden 4. und beginnenden 5. Jahrhundert die byzantinische Kirche, in deren Tradition die russische Orthodoxie steht, ihre marianisches Bittgebet artikuliert, das im späten 8. Jahrhundert in Lateinische übersetzt wurde: „Unter deinen Schutz fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin, unter den Flügeln deiner Güte und Barmherzigkeit beschütze uns; unter deinem Schutz und Schirm sind wir ganz sicher“.

Als noch vor Beendigung des Dreißigjährigen Krieges „die Türken mit Vorstößen nach dem Westen begonnen“ hatten, ging es nun, schreibt Hartinger, „nicht mehr gegen sprach- und konfessionsverwandte Feinde […], sondern gegen den ‚Erzfeind der Christenheit‘“ und um eine viel weitreichendere Herausforderung des Monopols im religiösen Feld. Nachdem schon Konstantinopel gefallen war (1453), stand jetzt auch noch die Rettung der Christenheit vor der ‚Türkengefahr‘ im Fokus. Diese konnte auch – wie im 17. Jahrhundert etwa durch den Konvertiten Angelus Silesius („Mir nach, spricht Christus, unser Held“) – als göttliche Strafe für die ‚Lutherische Ketzerei‘ interpretiert werden. Gerade in Kriegsgefahren hatte sich, dies war auch in dem zeitgenössisch vitalisierten kollektiven Gedächtnis gespeichert, der Schutz Mariens bewährt: „Angesichts der militärischen Ohnmacht von Kaiser und Reich lag es nahe, die Mächte des Himmels zu mobilisieren und um den Schutz Mariens zur Rettung der Christenheit zu flehen. Dass sich dabei die gläubigen Hoffnungen auf Passau mit seinem ‚Mariahilf-Bild‘ konzentrierten, lag nicht nur an der vermuteten geographischen Stoßrichtung der Türken entlang der Donaustraße; vielmehr bestand ein traditioneller Zusammenhang zwischen dem ‚Mariahilf-Ruf‘ und der Türkengefahr“, so Hartinger.

Bereits 1571 hatten die von Papst Pius V. (+1572) organisierten christlichen Truppen in der Seeschlacht von Lepanto vor Griechenlands Küste im Golf von Patras mit dem Ruf ‚auxilium christianorum‘ siegreich auf die osmanische Seemacht gestürzt. „Ihren Sieg über die türkische Flotte“, so Klaus Schreiner, „schrieb die ‚Heilige Liga‘ insbesondere der Gottesmutter Maria zu. Das christliche Europa wertete den siegreichen Ausgang der Schlacht von Lepanto zudem als untrüglichen Beweis für die Wahrheit des katholischen Glaubens“ und seine Überlegenheit über alle anderen Religionen. Zeitgenössische Erinnerungsfresken stellen etwa – ganz ähnlich wie das Mariahilf-Bild – Maria mit dem Christuskind dar; sie zeigen aber ein Mariahilf-Bild gleichsam in Bewegung, wie Maria „ganz handfest in die Schlacht eingreift, indem sie Kanonenkugeln auf die Türken herabwirft“, so Schreiner.

Doch gibt es noch andere kollektive Erinnerungsstützen, die das Wenn-Dann-Schema (‚Wenn Krieg, dann Maria‘) am Leben hielten. Da am Tag der siegreichen Seeschlacht die römische Rosenkranzbruderschaft ihre Bittgänge abzuhalten pflegte, war Papst Pius V. überzeugt davon, dass der Sieg der katholischen Militärallianz diesen Rosenkranzbetern zu verdanken war, letztlich freilich Maria selbst. Ein Jahr nach der Schlacht war von Papst Pius V. die Anrufung ‚auxilium Christianorum‘ in die Lauretanische Litanei eingefügt und zur Erinnerung der Gedenktag ‚Unserer Lieben Frau vom Sieg‘ eingeführt worden, der dann vom Nachfolger Papst Pius V. (1573) in ‚Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz‘ umbenannt wurde und – nach Ausdehnung dieser Feier auf die ganze katholische Christenheit durch Papst Clemens XI. (im Gefolge eines erneuten Siegs über die Türken in Ungarn 1716) – im offiziellen Kirchenjahr bis heute begangen wird. So hatten die im 15. Jahrhundert von den Dominikanern gegründeten Rosenkranzbruderschaften nicht nur die  Pflege eines – durchaus komplexen – meditativen Wiederholungsgebets und den Ausbau einer marianisch-katholischen Plausibilitätsstruktur zur Aufgabe. Sie fungierten lange Zeit auch als lebendige religionspolitische Erinnerungsspeicher. So dienten sie auch zur Heroisierung Mariens, sollte sie doch durch „das öftere Wiederholen des englischen Grußes […] um das Haupt der siegreichen Herrin, die der Schlange so ruhmvoll den Kopf zertreten, einen Ehrenkranz winden“ (Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, Band 10, 1897). Zudem diente der Rosenkranz, „als geistliche Waffe gegen die kirchenfeindlichen Mächte des Bösen“ (Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München – Wien 1994).

Da im 17. Jahrhundert der osmanische Imperialismus nicht abriss und Wien durch türkische Truppen belagert wurde, zogen sich Kaiser Leopold I. und sein Hof im Juli 1683 nach Passau zurück, wo er sich mit seinem Gefolge wiederholt auf den Mariahilfberg begab, um vor dem dortigen Gnadenbild sich selber, sein Reich und seine Truppen dem Schutz der Gottesmutter zu empfehlen. Als es am 12. September 1683 auf dem Kahlenberg vor Wien zur Entscheidungsschlacht zwischen Kreuz und Halbmond kam, diente ‚Mariahilf‘, der Name des Passauer Gnadenbildes, als Schlachtruf. Nach dem siegreichen Ausgang der Schlacht vermachte Kaiser Leopold I. dem Passauer Gnadenbild türkische Trophäen, Waffen, die dort auf dem Schulerberg zur Schau gestellt wurden. Zur öffentlichen Erinnerung ließ er in Wien die barocke Kirche ‚Mariahilf‘ (mit einer Kopie des Passauer Gnadenbildes) bauen und gab einem ganzen Stadtteil diesen Namen.

Schlachten werden heute mehr als 1000 Kilometer weiter östlich von Wien geschlagen. Welche  Maria wird im derzeitigen Krieg das Duell gewinnen – die russisch-orthodoxe oder die römisch-katholische?