Was gibt es heute?
Pell, Paul and Mary – oder das Kardinals-Gericht
Während mein Ristorante fast einen Monat lang schließen musste, weil der Koch – in Rom, Zürich, Frankfurt, Simmern, Hausach und Bad Wimpfen – nicht nur in kulinarischer Absicht unterwegs war, hatte sein Besitzer Gelegenheit, in einem Tagebuch zu blättern: im ersten Band des Gefängnistagebuchs eines Kardinals. Der zweite Band ist für diesen Monat Dezember angekündigt. Hat schon jemals ein Kardinal wegen des Vorwurfs sexuellen Missbrauchs im Knast gesessen?
Es geht um den 1941 geborenen George Pell, der beinahe nicht Priester, sondern ein Football-Star geworden und damit wohl nicht 2003 zum Kardinal ernannt worden wäre. 2008 war er oberster Gastgeber des Weltjugendtages mit Papst Benedikt XVI., im gleichen Jahr wurde ihm vorgeworfen, sexuelle Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. 2017 stellte er sich den polizeilichen Ermittlungen, soll er doch 1996 in der Sakristei der Kathedrale von Sidney zwei Chorknaben sexuell missbraucht haben. 2018 sprach ihn die Jury einstimmig schuldig, von einer Berufungsinstanz 2019 bestätigt: 6 Jahre Gefängnisstrafe. Daraus sind nur 404 Tage Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis von Melbourne geworden – mit „gutem Bett mit einer festen Unterkonstruktion“, Wasserkocher, Fernsehanschluss und Telefonkontakt, „Duschzelle mit hohem Wasserdruck und wunderbar warmen Wasser“: „Anders als in vielen noblen Hotels gibt es an der Wand über dem Bett eine gute Leselampe. Es ist sehr bequem, alles, was man braucht, ist in Reichweite“ (18. März). Zu wenig für ein Martyrium? Das Urteil wurde im April 2020 durch den High Court of Australia, also letztinstanzlich, einstimmig aufgehoben, Pell damit von allen Vorwürfen freigesprochen und aus der Haft entlassen. Über diese 404 Knast-Tage finden sich interessante Bemerkungen Pells über Paul und Mary und Michel.
Paul – gemeint ist Papst Paul VI. – hatte die Gottesmutter als „Maria, Mutter der Kirche“ proklamiert, obwohl die Mehrheit der Konzilsväter Einwände geltend machte, da, so hält Pell in seinem Ego-Dokument am 10. Juni fest, „Maria offensichtlich ein Glied der Kirche ist, wie dies in Kapitel in Lumen Gentium richtig dargelegt wurde. Andere wiederum waren deshalb dagegen, weil diese Lehre einseitig vom Papst und nicht vom Konzil verkündet worden war. Papst Paul argumentierte zutreffend, dass das Petrusamt nicht dem der Nachfolger der Apostel untergeordnet ist“, so Pell weiter. Er zitiert auch aus dem Brief eines Mithäftlings, der von einer Botschaft der Jungfrau Maria weiß, dass Pell deshalb unschuldig im Knast sitze, weil böse Mächte seine Arbeit daran stören wollten, „dem finanziellen und sexuellen Fehlverhalten im Vatikan ein Ende zu bereiten“. „Wir haben keine Beweise für einen solchen Zusammenhang“, vertraut Pell am 31. März seinem Tagebuch an, „obwohl ich diese Möglichkeit nicht ausschließe, aber Unsere Liebe Frau muss mehr wissen als ich, jedenfalls wenn die Botschaft echt ist“.
Noch eine andere Maria kommt in Pells Eintragungen vor: Es ist die resolute Gefängnisseelsorgerin Schwester Mary, von den Insassen auch ‚die Lebenslängliche‘ genannt, weil sie bereits 25 Jahre lang Dienst tut. Pell bewundert sie und schreibt zum Aschermittwoch (6. März): „Vorher war Father Philip Gill bereits bei mir gewesen, der anglikanische Gefängnisseelsorger … der mir ebenfalls das Aschenkreuz auf die Stirn zeichnen wollte. Ich war einverstanden und sagte zu ihm, dass ich kein Problem mit anglikanischer Asche hätte. Darauf gab er zurück, dass es eigentlich katholische Asche sei, denn er hätte sie von Schwester Mary erhalten“.
Schauen wir mal, wie lange die Kirchen noch solche Rückstände aus fossilen Brennstoffen rituell verwenden dürfen, zumal Pell schon jetzt beklagt, dass viele im Vatikan auf den „Religionsersatz“-Zug, den „Klimawandel-Zug aufgesprungen“ seien. Dagegen lobt und preist er namentlich das Opus Dei und andere konservative Sondergemeinschaften wie sonderbare Figuren der Kirche. Zugleich klagt er seinen obersten Chef, ohne ihn mit Namen zu nennen, dafür an, dass er „der Lehre des Herrn über Ehebruch und den Lehren des heiligen Paulus über die notwendigen Voraussetzungen für den würdigen Empfang der heiligen Kommunion“ widerspreche. Pell lobt und preist auch den „gegenwärtigen Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, der früher Arzt war“. „Ich hoffe“, schreibt er am 16. April weiter, „dass er bald zum Kardinal ernannt wird. Mit noch ein paar Jahren praktischer Leitungserfahrung sollte er absolut ‚papabile‘ sein, das heißt, eine reelle Chance haben, der nächste Papst zu werden“.
Pells Doppelwunsch wurde nicht erhört. Inzwischen gab der von Pell gepriesene Erzbischof von Paris auf öffentlichen Druck hin zu, ein „doppeldeutiges Verhältnis zu einer Frau“ gehabt zu haben, was immer das heißt. Anders als im Fall des Erzbischofs von München-Freising nahm der Papst Aupetits Rücktrittsgesuch rucki, zucki an. Nach der Veröffentlichung seiner moralischen Übertretung wird der 70-Jährige Michel Christian Alain Aupetit wohl nicht mehr Kardinal und Nachfolger des jetzigen Papstes werden können. Und George Pell, der das wünschte und schon Kardinal ist, würde ihn mit seiner Überschreitung ohnehin nicht mehr wählen können: Jenseits von 80 ist Schluss mit Konklave. Vor Papst Paul VI. gab es keine Altersbeschränkung bei der Papstwahl. Alt sind die beiden derzeitigen Päpste trotzdem. Und die Kirche ist immer mehr zur Gerontokratie geworden. Mehr noch: Eine Herrschaft der Alten umsorgt eine Klientele der Alten. Zukunftsorientiert hilft da, mit Franziskus gesagt, nur noch beten: „Der Herr lasse uns alle im Herzen immer jung bleiben“.