Was gibt es heute?
Beryll – oder das Augen-Blicks-Gericht

Stefana Sabin, eine hervorragende Dante-Kennerin, schreibt in ihrer kleinen „Kulturgeschichte der Brille“, die aus dem konvexen Schliff von Kugeln aus Quarz, Bergkristall oder Beryll (deshalb ‚Brille‘) entstanden war, die als Lesesteine dienten, um Gegenstände oder Zeichen stark zu vergrößern, dass heutzutage „die Politik weitgehend brillenfrei“ bleibe. Politiker befürchteten nämlich, „dass eine Brille nicht nur als defizitärer (Über-)Blick, sondern auch als Zeichen einer physischen Schwäche ausgelegt werden könnte“. So ersetzte Lyndon B. Johnson bereits im Wahlkampf seine mehr als 50 Brillen durch Kontaktlinsen, die er bei öffentlichen Auftritten trug. Auch Ronald Reagan schob sich – schon als Schauspieler – Kontaktlinsen für die öffentliche Bühne rein, während er auf der privaten Hinterbühne Brillen bevorzugte.

Allerdings zeigen inzwischen einige Studien, dass man seine Brille auflassen kann, auch als Politiker*in. Sie könnten sogar den Eindruck von Kompetenz und Glaubwürdigkeit steigern, „wenn sie eine Brille tragen, und ihre Chance, gewählt zu werden, vergrößern“. Andererseits werde diese Selbstinszenierung als kalkulierte Manipulation entlarvt, „um bestimmte Wählergruppen zu überzeugen“, schreibt Stefana Sabin, die sich mal mit, mal ohne Sehhilfe zeigt.

Wen überzeugte seinerzeit Helmut Kohl mit seiner dunklen und schweren Brillenfassung, die er dann gegen eine leichtere austauschte, nachdem der Bundeskanzler geworden war? Wen überzeugt heute noch Frank-Walter Steinmeier, der Bundespräsident, der bald wiedergewählt werden will und einige Brillen-Konversionen (vom Kassengestell über die Nerdbrille hin zur Intellektuellenbrille) durchlief? Wen kann Armin Laschet überzeugen, der schon jetzt – vor der Wahl – eine Brille mit leichterer Fassung träg? Wen überzeugt Annalena Baerbock, die zur Klimakrise – statt Brille – lange einfarbige Kleider trägt? Welche Wählergruppen mag wohl Olaf Scholz zu gewinnen, indem er keine Brille trägt?

Er wird wohl die Wahl gewinnen, nicht, weil er seine Brillen, sondern Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans versteckt. Dieser trägt nämlich eine Brille, und jene auch.