Was gibt es heute?
Scala – oder das Tanz-Gericht

Wer hoch hinaus will, braucht einiges, manchmal eine Leiter. Wenn einer eine Leiter sucht, dann kann er was erleben. Sie auch. Zumindest hat sie oder er die Qual der Wahl. Es gibt Anlegeleitern, Schiebeleitern, Seilzugleitern, Mehrzweckleitern, Steh- und Podestleitern, Vielzweckleitern, Teleskopleitern, Steig- und Schachtleitern, Haushaltsleitern, Stufen-Doppelleitern, Dachleitern, Leitern aus Aluminium, aus Holz. „Eine Leiter muss nicht nur robust und haltbar, sondern auch sicher sein“, heißt es in einer Werbung für die „Qualität unserer Produkte“. Auffällig ist: Niemand wirbt für Himmelsleitern und schon gar nicht für Leitern, auf denen man tanzen kann.

Aber es gibt sie: „Wenn sie gut sind, können sie auf der Leiter geradezu tanzen. Sie steigen hoch, gehen damit spazieren, halten aber immer die Balance, um die Kirschen zu pflücken“. Friedhelm Mennekes meint die süditalienischen Leitern für Erntearbeiter und erinnert damit an Joseph Beuys, der am 12. Mai 2021 einhundert Jahre alt geworden wäre, wenn er nicht 1986 gestorben und seine Asche im Meer verstreut worden wäre. In seinen letzten Jahren hatte sich Beuys mit Leitern auseinandergesetzt, insbesondere mit der „Scala Libera“ und mit der „Scala Napoletana“. Die hat er sich in Süditalien erworben: „reale Leitern, die leicht schräg im Raum stehen. Aber wenn wir sie sehen, dann sehen wir die Wirklichkeit dahinter. Wir sehen Leitern, die Früchte ernten. Und wenn du weißt, du gehst zum Tod, dann musst du wissen: Was bist du als Frucht und welche Früchte hast du wie ein Baum hervorgebracht?“, sagt Mennekes. Leitern werden so zu einem religiösen Symbol der „Vermessung der Differenz zwischen Diesseits und Jenseits, Aufbruch und Absturz, Leben und Tod“, schreibt Susanne Ristow.

Anders als der Clown August, der in Henry Millers Roman „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ letztere gegen den Mond gelehnt hat, um die Menschen nicht nur zum Lachen, sondern auch zur Glückseligkeit zu verhelfen, doch ausgelacht wird und in Trance verfällt; anders als dieser Clown, der uns, so Miller, „lehre, wie wir über uns selbst lachen“ und gerade „nicht anhalten sollen, um nachzudenken“, arbeitet Beuys, der sich selbst einmal einem Zirkus anschloss,  „am Übersteigen des Menschen“. Er soll in die Lage gebracht werden, so Mennekes, „hoch zu steigen, […] bis in Richtung des Göttlichen“. Es braucht eine gewisse Kraftanstrengung, Geschicklichkeit und Übung, in diese Richtung zu steigen, denn die Scala libera lehnt ja nicht an einem Stamm an (auch nicht am Mond), sondern steht frei. „Sie wurde von einem Draht gehalten, der über sie geschlagen und an zwei schweren Steinen seitwärts angebunden war. Kundige Arbeiter konnten auf ihr stehend die Balance halten und aus freien Ästen und Zweigen die Früchte pflücken“, so Mennekes („Joseph Beuys zwischen Leitern und Auferstehung“, in: https://www.feinschwarz.net/joseph-beuys-auferstehung/). Ein anschauliches Beispiel für die balancierende Bewegung ‚zwischen Immanenz und Transzendenz‘ mit einer ähnlichen Leiter lässt sich auf youtube finden (https://www.youtube.com/watch?v=O5J20EvCnZA).

Christ*innen glauben zwar, dass Gott heruntergekommen und Mensch geworden ist, ja gewissermaßen auf der Himmelsleiter top down zum Allerletzten geklettert ist, ‚wie ein Sklave wurde‘. Aber es wäre bequem, sich daran anzulehnen, so zumindest Beuys in einem Gespräch mit Mennekes: Auferstehung müsse „durch den Menschen selbst vollzogen werden. (…) Der Mensch muss sich gewissermaßen selber mit seinem Gott aufraffen. Er muss Bewegungen vollziehen, Anstrengungen machen, um sich in Kontakt zu bringen mit sich selbst […] Sehr schwer fällt es dem Menschen, aus eigener Kraft die Selbstbestimmung auch wirklich in Anwendung zu bringen. Es fällt ihm ungeheuer schwer. Er möchte viel lieber nochmal was geschenkt bekommen. Er kriegt aber nichts mehr. Er kriegt nichts, gar nichts, von keinem Gott, von keinem Christus. Dennoch bietet sich diese Kraft an und will mit Gewalt hinein. Aber unter der Voraussetzung, dass sich der Mensch selber aufrafft.“