Was gibt es heute?
Doppel-Doppel – oder: das Schatullen-Gericht
Dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu ist eines Tages aufgefallen, „dass bei den Bischöfen immer ein Lachen kam, wenn sie sich, auf die Ökonomie der Kirche angesprochen, einer objektivierenden Sprache bedienten, etwa vom ‚Phänomen von Angebot und Nachfrage‘ sprachen, um das Pastoralamt zu erklären […] oder an anderer Stelle die merkwürdigsten Euphemismen erfanden“ (Das Lachen der Bischöfe, in: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt 1998). Daraus und aus ähnlichen Beispielen schließt Bourdieu nicht, dass die Vertreter der Kirche lachend lügen, um zu vertuschen, dass es in der Kirche auch um Geld geht. Sie neigten vielmehr dazu, eine „streng ökonomische Interpretation ihres Handelns und ihrer Funktion von sich [zu] weisen“. Die Wahrheit eines jeden religiösen Unternehmens sei, „dass es zwei Wahrheiten besitzt: die ökonomische Wahrheit und die religiöse Wahrheit, die jene verneint“. Beides gehöre praktisch zusammen, und zu diesem „Doppelspiel“ gehöre die Praxis des Verneinens durch eine beschönigende Rede, eben durch Euphemisierung. So verkaufe ein Wallfahrtsunternehmen Reisen nach Rom als ‚Pilgerreisen‘ oder als Reisen ‚auf den Spuren der Apostel Petrus und Paulus‘. Und so werde ein kirchliches Reisebüro zugleich zu einem „verneinten Reisebüro“.
Ein anschauliches Beispiel für ein solches Doppelspiel des ‚Ja und Neins‘ lässt sich zwei neueren Leserbriefen von Pfarrern entnehmen, die sogar ein doppeltes Doppel betreiben. So zeigt sich Pfarrer A höchst verwundert darüber, wie es denn Kardinal Marx überhaupt möglich sei, eine halbe Million Euro aus seinem Privatvermögen für eine Stiftung für Missbrauchsopfer zu dotieren – so schön der Name der Stiftung auch sei: ‚Spes et salus‘: „Wie kommt ein deutscher Bischof zu einer solchen immensen Menge Geldes, so dass er einfach mal 500.000 Euro spenden kann […] Wie kommt er“, so fragt er noch einmal, „zu solch unvorstellbarer Summe?“ Ein Kardinal der armen Kirche Christi könne doch unmöglich Millionär sein, auch wenn er Jahrgang 1953 ist und früher Professor war.
Während dieser Pfarrer A also die ökonomische Wahrheit des Kardinals im Verweis auf die religiöse Wahrheit verneint (‚unvorstellbar‘), was zu beweisen war, kommt nun Pfarrer B ins Spiel. Er, ein „schlichter Landpfarrer“, rechnet Pfarrer A vor, dass er die ökonomische Wahrheit eigentlich kennen müsse, zumal dieser ja auch noch den Titel ‚Geistlicher Rat‘ trage. Der Landpfarrer (B) rät dem Geistlichen Rat (A): „Mein einfacher Rat an Sie – und all jene unserer Mitbrüder, die ins gleiche Horn blasen: Schauen Sie sich doch schlicht einmal Ihren eigenen Lohnstreifen an. Am besten jenen, den Ihnen das liebe Finanzamt als Lohnsteuerjahresbescheid zusendet. Dann finden Sie von selbst schnell eine Antwort auf Ihre Frage, woher der Kardinal so viel Geld hat“. Und der einfache Landpfarrer gibt Einblick in seine eigene Sammelliste oder Listensammlung, „die mir darlegt, wie hoch der Gesamtlohn ist, den ich […] bis heute erhalten habe“, zumal er sich ja „am Beamtensalär“ orientiere: In knapp vier Jahrzehnten „addierte sich dieser brutto auf rund 1.650.000 Euro. Sie lesen richtig! In DM liest sich diese Summe noch gewaltiger!“, schreibt er. Selbst bei seinem „verbleibenden Nettolohn von ‚nur‘ 1.305.000 Euro“ sieht er „für einen einfachen Pfarrer genügend finanziellen Spielraum, über die Jahre eine höhere Summe zu sparen, anzulegen und – wie es in einem Gleichnis Jesu als Vorbild hingestellt wird – zu vermehren, ja zu verdoppeln (Mt 25, 14-30)“.
Auffällig ist nun, dass auch Pfarrer B ein Doppelspiel betreibt, indem er zwar einerseits das Spiel der Verneinung des Pfarrers A hintertreibt, d.h. ein Tabu bricht und die objektive ökonomische Wahrheit der religiösen Arbeit des niederen und des höheren Klerus in Deutschland aufdeckt (Zug 1); andererseits aber (Zug 2) selbst in eine beschönigende Rede übergeht, welche wiederum die ökonomischen Wahrheiten verneint, die er bei Pfarrer A aufgedeckt hat. Ja, das macht er, nicht nur, indem er sein am deutschen Berufsbeamtentum taxiertes Gehalt biblisch rechtfertigt und die Bildhälfte des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg für die Sachhälfte hält und verdreht (das Doppeln von klerikalen Beamtengehältern sei jesuanisch, christlich, göttlich). Sein Gehalt zu verdoppeln sei gewissermaßen eine Praxis der Nachfolge Jesu, nämlich seinem „Vorbild“ zu folgen. Pfarrer B euphemisiert zudem, wenn er schreibt, dass ihm seine Millionen (in DM gerechnet) „aus der Schatulle meiner Trierer Bischöfe seit meiner Priesterzeit monatlich zuflossen und fließen“. Schatullen bezeichnen bekanntlich das frei verfügbare Privatvermögen (eines Landesherrn), was die Trierer Bischöfe sicherlich auch besitzen. Doch daraus fließt das Gehalt deutscher Priester sicherlich nicht, wie Pfarrer B wie A wissen, aber wohl verdrängen. Es sprudelt aus anderen Quellen, wird es doch – als Kirchensteuer – dem Bruttogehalt der erwerbstätigen Kirchenmitglieder entzogen, an die Finanzämter und von da aus an die Abrechnungsstelle der Kirchenverwaltung geleitet, die es nach festen Kriterien auf die Bankkonten des – auch klerikalen – Kirchenpersonals buchen lässt. Verneinte Banken, verneinte Ökonomie, verneinte Verwaltung, verneintes Kirche-Staats-Wirtschafts-Verhältnis, verneinte Versachlichung durch Privatisierung und Personalisierung einer vasallenartigen Priester-Bischof-Interaktion. Man glaubt den Landpfarrer monatlich unterwürfig vor seinem Bischof knien zu sehen, wenn er schreibt, dass er seinen Lohn „aus meiner Bischöfe Hände bis heute erhalten“ habe. Das Gehalt wird als fürsorgliche Gabe verklärt, das nach vorausgegangener Objektivierung – im Doppelspiel gegen Pfarrer A – als Arbeitsentgelt bestimmt wurde.
Nochmals sei es gesagt: Es geht – auch in diesem Beispiel – nicht um eine moralische Diskrepanz zwischen Wahrheitsanspruch und Unwahrheitsrealität. Auch nicht um eine der fünf klassischen „Techniken der Neutralisierung“, wie Soziolog*innen (vgl. Gresham M. Sykes/David Matza) sie bei Kriminellen beobachten können, die damit ihre devianten Handlungen zu rechtfertigen versuchen. Sondern es geht, wie Bourdieu sagt, um eine „Diskrepanz zwischen der objektiven Wahrheit, die eher verdrängt als unbekannt sein dürfte, und der in den Praktiken erlebten Wahrheit, und dass diese erlebte Wahrheit […] zur vollständigen Definition der Wahrheit der Praktiken dazugehört“. Mit anderen Worten: Der Repräsentant eines religiösen Unternehmens, das „in einer Art permanenter Verneinung seiner ökonomischen Dimension funktioniert“, glaubt selbst seiner Beschönigung und sagt: „Ich vollziehe eine ökonomische Handlung, aber ich will es nicht wissen; ich führe sie so aus, dass ich mir und den anderen sagen kann, sie sei keine ökonomische Handlung – und glaubwürdig in den Augen der anderen kann ich nur sein, wenn ich dies selber glaube“. Ich beziehe für meine religiöse Arbeit Lohn, aber ich glaube, dass ich ihn als eine Gabe erhalte, die mein Herr mir, seinem Diener, eigenhändig überreicht, nachdem er sie seiner Schatulle entnommen hat.
Dem gleichen Muster scheinen auch diejenigen zu folgen, die den „assistierten professionellen Suizid“ als Praxis kirchlicher Pflegeheime postulieren. Sie denunzieren die Ökonomie derer, die auf dem Markt mit „geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidbeihilfe“ (FAZ vom 11.01.2021) werben, und glauben, das gleiche Geschäft selbst anders – besser – machen zu können, indem sie als kirchliches Unternehmen seine ökonomische Dimension verneinen. Auch sie spielen ein Doppel – freilich ein K.O.-Spiel mit tödlichem Ausgang.