Was gibt es heute?
Heilig’s Blechle – oder: das Sockengericht

„Dass dem Menschen nichts mehr heilig ist, dass ihm im Bösen alles möglich ist, wurde an einem sonnigen Nachmittag […] neu bestätigt“. Gemeint ist mit diesem Kommentar nicht die schändliche Ertrumpung des amerikanischen Kapitols am Dreikönigstag 2021, wobei mehrere  Menschen starben und verletzt wurden, sondern das Attentat auf Papst Johannes Paul II. bei der traditionellen Generalaudienz „vor der größten Kirche der Christenheit in Rom“ 1981. Augenberichten zufolge, so schreibt der damalige römische Korrespondent der FAZ, Heinz-Joachim Fischer (Die Jahre mit Johannes Paul II., Freiburg 1998), habe der Papst „einen Moment lang unbeweglich gestanden und sei dann blutend auf die Sitze des Fahrzeuges an der linken Seite neben das Geländer geglitten […], am Dünndarm verletzt, was zu einem hohen Blutverlust geführt habe“. In dieser kollektiven Ausnahmesituation spielen sich auf dem Petersplatz „kurz nach dem Attentat erschütternde Szenen ab. Die Menschen stehen verständnislos unter dem Schock des ungeheuerlichen Geschehens. Entsetzen zeigt sich auf den Gesichtern […]. Die Nachricht von dem lebensgefährlichen Attentat verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch Rom und über die ganze Welt“. Das war vor vierzig Jahren.

Zwanzig Jahre später wurde freilich Insidern des Vatikans deutlich, dass auch dem Heiligen Vater, dem das Ungeborene so heilig war wie der eheliche Akt, einiges nicht (mehr) heilig war, wurde doch im Januar 2001 der Kinderschänder McCarrick Erzbischof von Washington, nachdem ihn einige Monate zuvor Papst Johannes Paul II. dazu – und wenige Wochen später zum Kardinal – ernannt hatte, obgleich der Heilige Vater über die Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs gegen ‚Uncle Ted‘ persönlich unterrichtet war: „McCarrick was formally installed as Archbishop of Washington on 3 January 2001. He was created cardinal by Pope John Paul II at the consistory of 21 February 2001.Already active both nationally and internationally, Cardinal McCarrick’s prominence increased as the new Archbishop of Washington“, so steht es im einschlägigen Vatikanbericht (http://www.vatican.va/resources/resources_rapporto-card-mccarrick_2020 1110_en.pdf.). Merkwürdig ist, dass der Vatikaninsider Heinz-Joachim Fischer (vgl. Vatikan von innen 1975-2005, Berlin 2007) darüber seinerzeit nichts verlauten ließ. Oder zielt der folgende verklausulierte Satz Fischers auf dieses Missverhältnis: „Katholiken, anderen Christen und Nichtgläubigen fällt die Einsicht immer schwerer, warum es nach päpstlicher Ansicht besser sei, die Würde der menschlichen Person bei Zeugung und Empfängnis zu schützen, als jene der neuen Generation vor der sicheren Zerstörung zu bewahren“?

Dass „dem Menschen“ – dem? – „nichts mehr heilig“ ist, wird oft gesagt, stimmt gleichwohl nicht, obwohl es der geschätzte Heinz-Joachim Fischer schrieb und sogar schon seinerzeit – 1981 – für „neu bestätigt“ glaubte. Dreißig Jahre später wurde Johannes Paul zunächst selig-, dann – 2014 – heiliggesprochen, nachdem er weltweit so viele Menschen selig- und heiliggesprochen hatte, wie alle Päpste vor ihm zusammen nicht. Hunderte Anfragen nach heiligen Blutreliquien liegen angeblich allein aus Kirchengemeinden in Deutschland vor, die aus einer Eigenblutentnahme des polnischen Papstes kurz vor seinem Tod entstammen sollen. Nach dieser Effusion habe der frühere päpstliche Privatsekretär und heutige Erzbischof von Krakau Blutampullen abgefüllt, mit nach Krakau genommen und dort zig Leintücher mit dem heiligen Blut des von seinem päpstlichen Nachfolger heiliggesprochenen Heiligen Vaters betropft. St. Thomas Morus in Obertshausen in der Nähe meiner Heimatstadt „beherbergt“ zum Beispiel eine solche Blutreliquie. Auf der Homepage heißt es weiter in merkwürdigem Deutsch: „Thomas Morus könnte sich zu einer Pilgerkirche mausern“.

Sage noch jemand, ‚dem‘ Menschen sei nichts mehr heilig! Ebenfalls 2011 erscheint dann die Broschüre „Heilig’s Blechle“, herausgegeben vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. Sie feiert und dokumentiert „125 Jahre Automobil“. Ursprünglich meint die schwäbische Redewendung nicht das Auto, sondern einen Ausweis aus Blech, das von einem sogenannten ‚Heiligenpfleger‘, der den geheimen kirchlichen ‚Armenkasten‘, den sogenannten ‚Heiligen‘, verwaltete, zur Legitimation des öffentlichen Bettelns und Versorgungsanspruchs an ortsansässige ‚Hausarme‘ ausgegeben wurden. Auch in Berlin gibt es inzwischen ein ‚Heilig‘s Blechle‘, das Dir, so heißt es, „bei Deinen Vespaproblemen zu helfen“ vermag. Das Berliner Vespa-Heiligtum findet man nicht leicht, es ist „versteckt auf einem Gewerbehof, nur 15 Minuten vom Alexanderplatz entfernt … nicht in dem Haus 23, das vorne an der Straße steht, sondern auf dem Hof dahinter“. Ja, manchmal verbleibt das Heilige im Verborgenen.

‚Heilig’s Blechle‘ ist bei den Schwaben aber auch ein Ausdruck des Erstaunens – so ähnlich wie ‚Leck mich de Söck‘ in Köln. Auch die gibt es heilsam und heilig, aber nicht im heiligen Köln, sondern in der Hauptstadt von Litauen, und zwar in der russisch-orthodoxen Heiliggeistkirche von Vilnius (nicht zu verwechseln mit der katholischen Kirche gleichen Namens). Die Atmosphäre dort ist „wirklich als heilig zu bezeichnen“, meint eine spirituelle Wochenendtouristin, die die Kirche der beiden Mönchs- und Nonnenklöster besuchte. Dort gibt es „einen gläsernen Sarkophag, in dem die Leichen der drei Märtyrer Antonius, Iwan und Eustachius eng nebeneinanderliegen“, schreibt ‚Die Tagespost‘ (vom 08.01.2021). Und weiter: „Ihre einbalsamierten Knochen werden von goldbestickten Samtkleidern bedeckt, doch die Füße der Heiligen lugen hervor. Sie stecken in weißen Wollsocken, heilsamen Socken. Als Gegenstand der religiösen Verehrung wird nicht bloß dem Körper der Heiligen eine heilkräftige Wirkung zugeschrieben, sondern auch den Kleidungsstücken, die mit der Reliquie in Berührung kamen. Beim regelmäßigen Sockenwechsel entscheidet der orthodoxe Priester in Vilnius darüber, welche Gläubigen seiner Gemeinde einer besonderen Hilfe bedürfen [,] und überlässt ihnen eine Heiligensocke, ganz oder nur ein kleines Stück davon, für den Fall, dass mehrere Personen von ihrer wohltuenden Wirkung profitieren sollen“. Angesichts von klitzekleinen Heiligensockenstücken oder winzigen Heiligblutstropfen ist die These, dass nichts mehr heilig sei, widerlegt.

‚Heilig’s Söckle‘ würden die Schwaben sagen; ‚leck mich de Söck‘ Horst Lichter. Sehen lässt sich: Litauen liegt nicht weit von Polen entfernt, und Katholizismus und Orthodoxie liegen fast so eng zusammen wie jene drei Heiligen im Sarg. Da passt kein Protestantismus mehr dazwischen.