Was gibt es heute?
Endlich – oder: das Mangel-Gericht

„Nur das Grab des Menschen ist die Geburtsstätte der Götter“, so einst Ludwig Feuerbach über den „Zusammenhang des Todes und der Religion“.. Denn „das für den Menschen empfindlichste, schmerzlichste Endlichkeitsgefühl ist aber das Gefühl oder das Bewusstsein, dass er einst wirklich endet, dass er stirbt. Wenn der Mensch nicht stürbe, wenn er ewig lebte, wenn also kein Tod wäre, so wäre auch keine Religion“ (Ludwig Feuerbach, 5. Vorlesung über das Wesen der Religion, Leipzig 1851). Der „Ausweg aus seiner Vergänglichkeit“ sei dem Menschen „aus sich selbst heraus“ nicht möglich, woraus der Wunsch erwachse, die Behebung des „Mangels an Gegenwart“ von einem anderen, einem unvergänglichen Wesen, zu erwarten, so folgt Bernhard Uhde dem Feuerbach (Bernhard Uhde, Spiritualität und Werte. Zur Begründung von interkulturellen Werten, Würzburg 2019).

Um diesen „allgemeinen Grund von Religion“ (1) kreise deshalb der „Inhalt von Religion“ (2), jeder Religion, so Uhde weiter. Zeitlich suche sie absolute Gegenwart, sachlich Einheit der erfahrenen „Welt der Vielfalt“ und ihrer Widersprüche, sozial die Vereinigung untereinander und mit dem Allerhöchsten, etwa mit ‚unserem Gott‘, der sich freilich immer wieder dem Greifen und Begreifen entzieht. Auf Augustinus geht die lateinische Phrase zurück: „Si enim comprehendis, non est Deus“ – ‚Wenn du nämlich begreifst, ist es nicht Gott‘ – ‚If you understand it, it‘s not God‘ – ‚Se comprendi, non é Dio‘. Auch der Islam, so einer seiner besten Kenner, Bernhard Uhde, weiter, „ist auf ‚Ergebung‘ [= ‚Islam‘] ausgerichtet vor dem Einen Gott, der als Einziger und Einer nichts neben sich hat“. Der eifersüchtige Gott der jüdischen Tradition lässt grüßen. Die allgemeine „Praxis von Religion“ (3) bestimmt Bernhard Uhde als „‚Beachten‘ der Herrschaft des Inhalts von Religion“ durch „Mythos, Ritus, Gebet, Meditation, Kontemplation“, die er „als ein Weg“ beschreibt – eine der beliebtesten Metaphern des religiösen und spirituellen Lexikons. Nicht das Denken (und Reden) zählt der Denker Uhde zu den vorzüglichen Praktiken von Religion, obwohl er auch die „sicherste erste Erkenntnis“ erinnert, die Descartes gebracht hat: „Ich denke, mithin bin ich“: Damit werde „jeder mögliche Gegenstand menschlichen Wissens eben diesem Urteil unterworfen, sodass auch ‚Gott‘ nicht mehr die Voraussetzung dieses Urteils, sondern Objekt dieses Urteils wird“. Und diese „Unterwerfung unter das menschliche selbstbestimmte Urteil“, so Uhde, bahnt die Aufklärung an.

Um dieses Unterwerfungsverhältnis ging es beim Vorwurf der praktischen Nichtbeachtung des Inhalts von Religion, den vor gut 150 Jahren ein Konstanzer Kreisgerichtsrat zusammen mit seinem Bruder erhoben hat, und zwar gegenüber der Philosophie einerseits und gegenüber der lutherischen Kirche andererseits (Reinhold und Hermann Baumstark, Unsere Wege zur katholischen Kirche, Freiburg, 2. Auflage 1871). Der wahre und lebendige außerweltliche Gott könne vom „Menschen nicht durch sein Forschen ergriffen werden; was er in unendlicher Gnade uns von sich mittheilt, das haben wir in demüthigen Glauben als lebendige Thatsache anzunehmen und zu verehren. Sonst bekommen wir statt eines ewigen Gottes eine Vorstellung ohne wirklichen Gehalt, statt eines allgütigen Vaters eine nackte, trostlose Abstraktion“, schreiben die Brüder. Dem Menschen, namentlich dem Religionsphilosophen, sei es verwehrt, „mit seinem endlichen Denken auch den unendlichen Gott ergreifen zu können“. Der Mensch als „ein endliches Wesen, er erkennt sich und sein Denken als endlich und beschränkt. Inhalt und Gegenstand der Religion ist aber gerade das Unendliche und sein Verhältnis zum Endlichen. Nun wird es aber nicht zu bestreiten sein, dass ein endliches Wesen das Unendliche nicht zu erkennen vermag […], sondern nur soweit, als letzteres sich ersterem mittheilen will. Die entgegengesetzte Annahme würde die Rollen umkehren, würde das Unendliche dem Endlichen unterwerfen“.

So könne sich das Unendliche nur selbst mitteilen und müsse die „Selbstmittheilung des Unendlichen an das Endliche“, d.h. die „göttliche Offenbarung“, durch „Glaube“ und Glaubenspraxis ergriffen werden: „in unbedingter Selbsthingabe an das Unendliche“. Wer Religion dagegen als Gegenstand des Denkens statt des Glaubens bestimme, ende in „Selbstvergötterung“. Die beiden Baumstark-Brüder sahen an ihrer lutherischen Kirche mit deren Orientierung an der zeitgenössischen Philosophie Kräfte der Verneinung und Zerstörung am Werk und sie beklagten die Vielgestaltigkeit und Zerrissenheit des Protestantismus, der seine Einheit nur in der Gegnerschaft gegen den Papst fände (gemäß dem Ausspruch Luthers, man habe „schon lange genug der römischen Hure im stinkenden Hintern gesessen“).

Angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Pluralisierung pluralisieren sich alle Religionen und Konfessionen, auch die katholische Kirche, ihre Theologen und Theologinnen, ihre Bischöfe, ihre Kardinäle und auch ihre Päpste. Diesem Gesetz der Moderne, dem Gesetz wachsender Pluralisierung, entkommen sie nicht. Vielmehr kommt hinzu: Wie will die katholische Kirche ‚Heil‘ repräsentieren: darstellen, vorstellen und vertreten, wenn sie so häufig – s. aktuell in Köln – als ‚Unheil‘ erfahren wird und ‚Unheil‘ vervielfältigt? Es wächst auch die Frage, wie dann der Inhalt der Religion, wenn er denn – so Bernhard Uhde – auf Einheit zielt, noch praktisch ‚beachtet‘ werden, noch praktiziert werden kann. Neben der Unterwerfung Gottes unter das Urteil der individuellen Vernunft ist die Pluralisierung des praktizierten ‚Glaubens‘ und die Zerrissenheit seiner Repräsentanten vielleicht eines der Hauptprobleme von Religion in der Moderne: eine ihrer ganz zentralen Herausforderungen zumal. Die lutherischen Brüder Baumstark wären wohl heute nicht mehr konvertiert …