Was gibt es heute?
Cephalophore – oder: das Däumling-Gericht
Jüngst erinnerte eine Kollegin daran, dass die Zeiten vorbei seien, in denen Professoren einer „konzentrierten Gefolgschaft ihrer Gedankengänge und -sprünge gewiss sein konnten“ (Forschung und Lehre, 2021, Heft 2). Sie denkt da an Hundertschaften von Studierenden in großen Hörsälen, die diese Gefolgschaft – was für ein Wort! – „stehend oder auf dem Boden sitzend“ praktizierten und „von den ‚ganz großen‘ Lehrenden (beispielsweise Habermas, Luhmann) beeinflusst“ wurden – ohne Powerpoint, ohne Folien, ohne Vorreden seien sie in ihr Thema eingestiegen. Ich hatte auch das Vergnügen, ja intellektuellen Genuss, Jürgen Habermas und die inzwischen verstorbenen Niklas Luhmann, aber auch Norbert Elias oder Rainer M. Lepsius zu hören, auch Peter L. Berger und Thomas Luckmann und Pierre Bourdieu. Ja, mit Powerpoint kann ich sie mir gar nicht vorstellen. Eine – von der Kollegin behauptete – „Innigkeit zwischen den Stars ihrer Fächer“ und den Studierenden stellte sich bei mir allerdings nicht ein. Vielleicht deshalb, weil ich, immer pünktlich, nicht leiden musste? Weil ich nämliche einen Sitzplatz hatte, manchmal mit vier Beinen aus Holz oder Metall, selten mit Armlehne, immer aber mit Rückenlehne? Denn wir lernen ja, wie Bourdieu nicht müde wurde zu betonen, „durch den Körper. Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumende Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein“ (Pierre Bourdieu, Meditationen. Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt 2001). Ich gehörte als nicht zu den erschöpften, sich ihre Beine in den Bauch stehenden oder sich im Hörsaalschmutz erniedrigenden Studierenden, also auch nicht zu denjenigen, die einer Person oder Gruppe „umso stärker anhängen, je strenger und schmerzhafter die Initiationsriten waren, die ihnen […] auferlegt wurden“ (Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990).
Jene emeritierte Kollegin, Christiane Bender, schildert nun, dass es in den heutigen Hörsälen zu einer „Verlagerung der Machtgewichte zugunsten breiterer Schichten“, wie Norbert Elias sagen würde, gekommen sei. Und zwar durch das Handy: „Der Besitz des Smartphones gibt den heutigen Studenten und Studentinnen eine ihr Selbstbewusstsein stärkende Machtempfindung, über einen Zugang zu umfangreicheren Informationen zu verfügen“, als ihnen die Professorinnen und Professoren bieten könnten. Man könnte also meinen, die Studierenden von heute hätten den Bezugspunkt ihrer Gefolgschaft ausgewechselt. Oder haben sie niemanden mehr, dem sie folgen, gar Gefolgschaft leisten können? Sind sie gar kopflos geworden?
Der ebenfalls (2019) verstorbene Michel Serres hat in seiner „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ („Erfindet euch neu!“, 3. Auflage, Berlin 2016) an die Legende des Heiligen Dionysius erinnert, der von den ersten Pariser Christen ca. 250 zum Bischof gewählt wurde – wohlgemerkt: gewählt! Aber war früher alles besser? Denis wird häufig kopflos, d.h. mit dem eigenen Haupt in beiden Händen, dargestellt und später als Heiliger gegen Kopfschmerzen angerufen. Er wurde nämlich – auf dem Aufstieg zum heutigen Montmartre – geköpft, zusammen mit seinen beiden Begleitern. Die Legenda aurea erzählt: „Danach dem Richter vorgeführt, werden sie wieder mit neuen Strafen gepeinigt, und beim Götzenbild des Merkur werden die Köpfe der Drei mit Axthieben abgeschlagen zum Bekenntnis der Dreifaltigkeit. Und sofort richtete sich der Körper des heiligen Dionysius auf und trug seinen Kopf in den Armen, geführt von einem Engel und von himmlischem Licht geleitet, zwei Meilen weit von dem Ort, der Märtyrerberg heißt, bis zu der Stelle, wo er nun nach eigener Wahl und Gottes Vorsehung ruht“. Auch die heutigen Studierenden, so Michel Serres, seien, wenn auch unblutig, gewissermaßen geköpft, halten sie doch ihr Notebook in den Händen – wie einst Denis seinen Kopf. Und weil sie gelenkig darauf wie auf ihrem Handy tippen, nennt Serres sie „Däumelinchen“.
Mag Däumelinchen auch nicht um Denis wissen und „sich jener Legende auch nicht entsinnen – was sie da vor Augen hat, ist nichts anderes als ihr Kopf“, schreibt Serres: „Wie der heilige Dionysius seinen halslosen Kopf, so hält sie ihre vormals internen, nun externalisierten kognitiven Fähigkeiten in Händen. Muss man sich Däumelinchen enthauptet vorstellen? Ein Wunder?“. Inzwischen sei nicht nur die Studentin, sondern „jeder von uns ein heiliger Dionysius geworden“, schreibt Serres – wohl kein blutiger Heiliger, auch nicht bischöflich, aber ein*e Cephalophore, ein vernetzter Kopfträger, eine digitalisierte Kopfträgerin: „Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewährten neuronalen Kopf herausgetreten“. Wir alle halten „die Kognitionsbüchse in unseren Händen.“
Also auch jene Kollegin, die an alte Gefolgschaften erinnert. Professorinnen und Studenten, Professoren und Studentinnen sind stattdessen zu neuartigen Gesellschaften von Kopfträgern geworden, sind gezwungen, das traditionelle Raumformat, das „Seitenformat“, wie es Serres nennt, zu verlassen. Das Seitenformat kennt eine Kopfzeile und vielleicht auch eine Fußzeile, ein Oben und Unten, eine Vorne und Hinten, Reden und Schweigen, Hochmut und Demut, Sprachrohre und Ohrrohre – nicht nur an Hochschulen, auch in den Klassenzimmern, den Theatern, den Kirchen. „Die Ausrichtung aller auf das Rednerpult, von dem aus das Sprachrohr ihnen Reglosigkeit und Schweigen auferlegte“, so Serres, „reproduziert in der Pädagogik die Ausrichtung des Gerichtssaals auf den Richter, des Theaters auf die Bühne, des Hofs auf den Thron, der Kirche auf den Altar“ oder auf die Kanzel. „Weshalb verlieren die Kleinen Däumlinge zusehends das Interesse an dem, was das Sprachrohr sagt?“, fragt Serres.
Tatsächlich zerfällt fast überall das vertikal strukturierte Seitenformat, kippt in die Horizontale und zerstreut Gefolgschaften. Aber wie lange? Der heilige Denis überlebte geköpft letztlich nicht. Wunder gibt es zwar immer wieder, aber sie halten nicht länger als zwei Meilen. Wie auch immer: Macht verlagert sich, wird dispers. Die Suche nach neuen – machtlosen – Autoritäten hält an.