Was gibt es heute?
Vorgesetztes – oder: das Distanzgericht
Die herkömmliche Theologie – Theo-Logie – hat Gott, so scheint es, nach dem Bild des Vorgesetzten modelliert und die Mensch-Gott-Beziehung demnach in der Logik einer Untergebenen-Vorgesetzten-Beziehung: Gott als der Allmächtige, als der Herr über Leben und Tod, als der Große Gärtner (Emil Nolde), als die Nummer eins usw. Seit Luhmann wissen wir, dass „etwas fehlt“, wenn man in ein „vorgesetztenloses Dasein“ gelangt, weil man vielleicht Professor oder selbst Vorgesetzte*r wird, in Rente geht oder sich selbständig macht. Was ist mit denen, die sich ihrer kirchlichen Vorgesetzen entledigen, es unterlassen, mit ihnen zu kollaborieren, z.B. nicht in die Kirche gehen, ihr Engagement einstellen oder aus ihr austreten? Der eine oder die andere Vorgesetzte erweist sich ja tatsächlich „als so unkooperativ, dass es besser wäre, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen“, so Luhmann (Unterwachung oder die Kunst, Vorgesetzte zu lenken, in: Der neue Chef, hg. von Jürgen Kaube, Berlin 2016).
Wenn, so Luhmann, der nicht gendert, weiter, der Vorgesetzte fehlt, vermisse man „nicht nur die starke Schulter, an der man sich gelegentlich anlehnen und ausweinen kann“, nicht nur „Schutz und Trost“. Es fehle einem dann auch „ein wichtiges, vielfältig verwendbares Werkzeug bei der Durchsetzung von Plänen und Absichten. Wer ohne Vorgesetzte lebt, muss – sofern überhaupt aktiv – sich in vielen und weitverstreuten Beziehungen selbst durchsetzen“. Gilt das auch für Atheist*innen, Agnostiker*innen?
Wer dagegen einen Vorgesetzten – gern auch eine Vorgesetzte – hat, habe – außer Risiken – zum Beispiel die Chance, „Geist und Geschick sozusagen an einer Stelle konzentriert einsetzen“ zu können, „um aufgrund dieser Beziehung dann diese Potenz zu nutzen – ohne ihm damit notwendigerweise auch den Ärger abzunehmen.“ Für Gott „gibt es keine ausweglosen Situationen“, heißt es auf der Website eines sogen. ‚Missionswerks‘, „auch wenn die Umstände manchmal eine andere Sprache sprechen […] Sage Gott, was dir schlaflose Nächte macht. Er hört dich nicht nur, er wird handeln. Vielleicht nicht so, wie du dir das wünschst, aber auf jeden Fall so, wie es gut für dich ist“. Wer sitzt da in den Vorzimmern des göttlichen Herrn?
Freilich könne, so wieder Luhmann weiter, nichts und niemand „verhindern, dass der Untergebene hin und wieder vor seinem Vorgesetzten Angst bekommt“. Aber eine wissenschaftliche Analyse könne den Untergebenen „vielleicht so weit bringen, aus seiner Angst die richten Schlüsse zu ziehen“. Luhmann empfiehlt den Untergebenen, sich nicht vom Imponiergehabe der Vorgesetzten (großer Schreibtisch, geräumiges Büro, schwere Tür, dickes Auto, teure Krawatte) beeindrucken zu lassen, sondern sich von diesem Eindrucksmanagement zumindest kognitiv zu distanzieren: „Hilfreich ist dabei die Vorstellung, der Vorgesetzte habe keine Kleidung an“. Tabubruch? Jetzt hört’s aber auf mit der Gottes-Analogie?
Tatsächlich; denn Luhmann wird noch sachlicher: Hilfreich für die Distanzierung vom Eindrucksmanagement der Vor-Gesetzten sei, sich klar zu machen, dass sie von einem „harten Gesetz nicht ausgenommen“ sind, nämlich von der „Knappheit von Bewusstsein“. Auch die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten „hat Grenzen, auch ihr Tag hat nur 24 Stunden“. Dies gilt für Gott, den Allwissenden und Ewigen, nicht. Er tickt anders. Für ihn ist bekanntlich ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag. Er schläft wohl auch nicht wie die Vorgesetzten, denn anders als bei ihnen gibt es bei ihm keine „Engpässe an Zeit und an Aufmerksamkeit“. Während in den rein menschlichen Herrschaftsbeziehungen „rein von der Kapazität her gesehen der Schwerpunkt bewusster Entscheidungen unten liegen muss“, liegt er, schon rein von der zeitlichen, sachlichen und sozialen Kapazität Gottes her gesehen, oben.
Rücken wir mit Luhmann noch weiter nach ‚unten‘, auf die Position der Untergebenen in ihrer Relation gegenüber den Vorgesetzten. Die Untergebenen, so unterstellt der soziologische Meister, verfolgen ein Doppelziel: zum einen das Ziel der „Selbstdarstellung“, zum anderen das Ziel der „Entscheidungsbeeinflussung“. Und zumeist passen beide Ziele nicht zusammen, sind nicht integriert. Denn die Verfolgung des einen Ziel muss nicht unbedingt der Verfolgung des anderen Ziels förderlich sein. Untergebene, die sich zum Beispiel auf der großen Bühne der sozialen Medien oder am Arbeitsplatz als Schleimer gerieren, indem sie über den auch noch so misslungenen Witz des Chefs lachen, peinlicherweise auf Chefkumpel machen, vorauseilend gehorsam sind und immer alles ganz toll finden, was aus der Chefetage kommt (Vgl. Ursula Kals/Uwe Marx: Auf der Schleimspur, FAZ vom 20.02.2021), verlieren vor einem anderen Publikum, nämlich den Kollegen, an Akzeptanz und an deren Kooperationsbereitschaft. Und sie befeuern solche Kollegen, die ebenfalls um die knappe Aufmerksamkeit der Vorgesetzten buhlen und untereinander auf Rache sinnen. Schmeichler und Schleimer, die es freilich auch unter (schwachen) Vorgesetzten gibt, „vertreten keine eigene Meinung, sondern wechseln diese rascher als ihre Krawatte und schweigen, wenn Kritik angebracht wäre und der Kaiser keine neuen Kleider trägt, sondern nackt dasteht“ (ebd.). Biblisch kennen wir das Auseinandertriften von Selbstdarstellung und Entscheidungsbeeinflussung. In der Bergpredigt (Mt 6, 16ff) heißt es: „Wenn ihr fastet, dann schaut nicht so drein wie die Heuchler! Sie setzen eine wehleidige Miene auf und vernachlässigen ihr Aussehen, damit jeder merkt, dass sie fasten. Ich versichere euch: Diese Leute haben ihren Lohn schon erhalten!“ Und umgekehrt lautet die Anweisung: „Bei dir soll es anders sein: Wenn du fastest, dann pflege dein Äußeres so, dass keiner etwas von deinem Verzicht merkt – außer deinem Vater im Himmel. Denn er ist auch da, wo niemand zuschaut. Und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen.“ Biblisch gilt also der Luhmann-Satz: „In dem Maße, in dem der Vorgesetzte als einzelner relevantes Publikum ist, gelingt auch die Integration“. Nur Gott soll vom Fasten etwas mitkriegen, sonst kein anderes Publikum.
Der Text der Bergpredigt enthält aber auch den leisen Wenn-dann-Hinweis, dass man als Untergebener auch einen Vorgesetzten beeinflussen und eine Gehaltserhöhung erreichen kann. Denn ‚Macht‘ können in einer Beziehung der Über- und Unterordnung auch Untergeordnete über Übergeordnete haben. Sie haben „verschiedene Arten von Machtquellen“, so Luhmann, der seinen Vortragstext bezeichnenderweise „Unterwachen“ nennt. So beruht die Macht der Untergebenen darauf, dass die Vorgesetzten ‚nicht alles blicken‘, denn sie brauchen Entscheidungshilfen, sind „auf Vorsortierung angewiesen“. Und sie müssen Entscheidungen treffen, die als Erfolg gewertet werden können. Um erfolgreich zu sein, müssen Untergebene Entscheidungen vorbereiten. So begründet die Angewiesenheit auf die Ressourcen anderer, etwa auf Informationen in der Hand der Untergebenen, Abhängigkeit von ihnen.
Gilt dies auch für Gott? Braucht auch er Entscheidungshilfen anderer? Ist auch er „abhängig vom Grad der Komplexität und den Ungewissheiten der Entscheidungslage“? Ist auch für ihn „ein Überblick über die Zusammenhänge nicht mehr zu gewinnen“, wie es Luhmann den Vorgesetzten attestiert? Gott ist wohl doch kein Vorgesetzter und – noch wichtiger – ein Vorgesetzter ist kein Gott – auch wenn sein Bodenpersonal manchmal in seinem Vorzimmer zu sitzen und einiges eher mitzukriegen glaubt als die Ungeweihten. Gott ist auch deshalb kein Vorgesetzter, als, wie bei Hertha BSC geschehen, jahrelange Vorgesetzte (Michael Preetz und Ingo Schiller) selbst wieder Vorgesetzte (Carsten Schmidt) bekommen können. Man muss sich seine Vorgesetzten nicht nur nackig, sondern auch göttlich vorstellen, um sich von ihnen zu distanzieren. Vielleicht muss man sich ja Gott nur wie den einen oder die anderen Vorgesetzten vorstellen, um ihm näher zu kommen?