Was gibt es heute?
Exzentrisch rosa – oder das Ackergericht

Im exzentrischen, außerhalb des Zentrums der Schweiz gelegenen Basel gibt es heute noch fünf Friedhöfe. Einer davon ist im Osten der Stadt, wenig idyllisch mitten in einem Gewerbegebiet „zwischen SBB-Gleisen, einem Rangierbahnhof und einem Tramdepot“. Gleichwohl gilt er als eines der bedeutendsten Schweizer Beispiele für frühe, nämlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts landschaftlich gestalteten Friedhöfe. Und auf diesem exzentrischen und zugleich „schönsten aller Basler Gottesäcker“ sind auch einige exzentrische Leute begraben. Wenn man sich dem jüngst erschienenen Friedhofsführer vom Thomas Blubacher („Letzte Ruhe am Rheinknie“) anvertraut, kommt man ins Staunen darüber, was die, die hier unter der Erde liegen, so alles im ‚über-irdischen‘ Leben getrieben haben. Exzentriker gibt es nicht erst in der heutigen, von Andreas Reckwitz diagnostizierten ‚Gesellschaft der Singularitäten‘.

Folgt man Blubacher über den Wolfgottesacker, gelangt man zum Beispiel zum Grab des  ehemaligen Leiters des Pharmaziemuseums der Uni Basel. Dieser Michael Kessler (+ 2018) wurde „mit einer Doktorarbeit über Weihrauch“ promoviert und hatte sich fast 20 Jahre später – laut Todesanzeige – entschieden, „‚in seinem geliebten Museum aus dem Leben zu scheiden‘“. Man trifft auch auf das Grab des Exzentrikers und Visionärs Gilbert Clavel (+ 1927), der eine Erzählung über eine Einrichtung publizierte, „die drei Arten von Selbsttötung offeriert, nämlich durch Totsaufen, Wollust oder die Droge ‚Pantopon‘. In Italien, wo er lange lebte, wurde er ‚il gobbo‘, ‚der Bucklige‘, genannt.

Auch der 1925 verstorbene Rudolf Wackernagel litt „an einem Buckel“, weshalb er schon in jungen Jahren „zu Basels erstem vollamtlichem Staatsarchivar gewählt“ wurde. Sein Urenkel lebt noch, „der Schauspieler, Schriftsteller und ehemalige RAF-Terrorist Christof Wackernagel“, der sich von seiner kriminellen Exzentrik distanziert hat. In der Nähe seines Urgroßvaters ist ein anderer Exzentriker begraben; der hat sich nämlich mit Exzentriker*innen befasst, nämlich „Portraits von Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen, der Unverstandenen und Randständigen“ verfasst. Dieser Christoph Mangold (+ 2014), der „praktisch das ganze Jahr hindurch im Rhein schwimmen ging“, hat unter anderem auch ein „Konzert für Papagei und Schifferklavier“ geschrieben, einen Roman. Aus großbürgerlichen Kreisen stammt der Künstler Rudolf Maeglin (+ 1971), der einen großen Teil seines Lebens „als Hilfsarbeiter auf Baustellen und in der chemischen Industrie“ verbrachte. Einem Leben in Armut entfliehen konnte dagegen Alfred Altherr (+ 1918), den man ins Waisenhaus steckte, nachdem dessen Elternhaus gepfändet wurde. Als späterer Pfarrer setzte er sich dann für ein exzentrisches, „vom Dogmenzwang losgelöstes Christentum“ ein.

Auf dem Wolfgottesacker bestattet ist auch der aus Bayern stammende Ludwig Wille (+ 1912), der als Psychiater die damalige, mit Pavillons gegliederte ‚Irrenanstalt Friedmatt‘ konzipierte. Er sorgte auch dafür, dass ihnen Gärten mit Spielplätzen angegliedert wurden. Diese waren „auf der Männerseite mit Kegelbahn und Turngeräten, auf der Weiberseite mit Schaukeln“ versehen. Ein weiterer Psychiater, der Exhibitionismus-Spezialist John E. Staehelin (+ 1969), ließ Friedmatt „in eine moderne psychiatrische Klinik“ umbauen. Er erklärte, Basel als Grenzstadt sei durch das Zweikindersystem zum Aussterben verurteilt, aber auch „von ‚Zugewanderten und den durch Einheirat Schweizer gewordenen Frauen‘ bedroht“, da sie „‚kranke Erbmassen mitbringen‘“. Seinem Grab ist ein solcher Rassismus nicht anzusehen.

Fremden deutlich mehr zugetan war ein anderer, dessen sterbliche Überreste auf dem Wolfgottesacker ruhen, Albert Socin (+ 1899). Auf seinen ausgedehnten Sprachforschungsreisen hatte er „aus dem Mund einer alten syrischen Christin die Überbleibsel eines im Aussterben begriffenen westaramäischen Dialektes“ aufgenommen. Ich weiß, auch Franz Overbeck (+ 1905) liegt auf dem Wolfgottesacker. Der Kirchenhistoriker hatte sich allerdings „nicht als Theologe und auch nicht als Christ“ verstanden, da „ihm unter den Bedingungen der Gegenwart Christentum unmöglich geworden sei“. Und auch Johann Jakob Bachofen (+ 1887) liegt dort begraben, der mit seinen Theorien zum Urmatriarchat von manchen als „Urvater des Feminismus“ ernannt wurde.

Noch weitaus mehr exzentrische Leute sind da auf dem Wolfgottesacker unter die Erde gebracht worden: solche, die sich – 1932 – mit den „Ursachen heutiger Weltwirrnis“ oder – einhundert Jahre früher – mit Eingeweidewürmern befasst, die „Schießbaumwolle“ erfunden  oder für den „Normalarbeitstag von elf Stunden“, für die gleichen Rechte von Männern und Frauen oder für Süßmost statt Alkohol eingesetzt haben. Der untergehenden Titanic war Alfons Simonius (+ 1920) entkommen. Er musste sich zu Lebzeiten Gerüchten erwehren, er habe dies nur geschafft, weil er „die Mannschaft bestochen oder sich als Frau verkleidet“ habe. Ein anderer publizierte eine Schrift, die den Titel „Der Fuß und seine Bekleidung“ trägt. Er hatte seinerzeit seine Besucher*innen „aus hygienischer Ängstlichkeit“ stets in weißen Handschuhen empfangen und wollte den von ihm verehrten Darwinisten, Christentumskritiker und Wegbereiter der Rassenhygiene, Ernst Haeckel, „in eine Toga und mit goldenem Lorbeerkranz auf dem Haupt“ kleiden – als erzenes Denkmal noch zu dessen Lebzeiten. Haeckel hat sich daraufhin mit seinem exzentrischen Fan, Paul von Ritter (+ 1915), überworfen und ihn um einige Jahre überlebt.

Einer der Grabsteine auf dem Wolfgottesacker erinnert an Lucius Burckhardt (+ 2003), der zusammen mit seiner Frau Annemarie Burckhardt-Wackernagel (+ 2012) die ‚Promenadologie‘ begründete, englisch Strollology, also die Spaziergangswissenschaft. Durch Fahrrad, Bahn, Auto und Flugzeug habe sich die menschliche Wahrnehmung der Umgebung rasant verändert, weshalb diese wieder in die zentrale Perspektive des Flaneurs zurückgeholt werden sollte. Mir kann bis heute freilich die Promenadologie nicht erklären, weshalb Spaziergänger*innen die Zentriker*innen sein sollen und nicht ebenfalls zu Exzentriker*innen geworden sind. Wenn es keine Zentralperspektive mehr gibt – bewegen wir uns nicht alle exzentrisch? Sie wollte sich nur die Füße etwas ‚vertreten‘, schied dabei aber – unfreiwillig – aus dem Leben: die Schauspielerin Silvia Reize (+ 2012). Im Basler Unispital stürzte sie auf einer Treppe und ruht nun sanft auf dem Wolfgottesacker.

Man muss ja nicht genauso promenieren wie der Großvater des weltberühmten Begründers der Analytischen Psychologie, der Karl Gustav Jung (+ 1864), aber eben mit ‚K‘ geschrieben, heißt. Opa „Jung studierte Medizin in Heidelberg, wo er Aufsehen erregte, wenn er“, so Blubacher, „das Ferkel von ungewöhnlich intensiver rosa Farbe, das er als Haustier hielt, wie einen Hund an der Leine führte“. ‚Schwein haben‘ kann man auch haben, ohne ein Schwein zu haben, denke ich. Man muss an Silvester und Neujahr weder ein Ferkel in einem Korb herumreichen noch mit ihm, etwa zur Freude von Promenadologi*innen, flanieren – schon gar nicht auf einem Friedhof. Viel Glück den Lebenden zum Jahr 2022, und Heil unseren Toten.