Was gibt es heute?
Finito – oder: Das Hütchenbastelgericht

Corona lässt vieles sichtbar werden, unter anderem viele Ungleichheiten: der Entlohnung, des Vermögens, von Bildungschancen, die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, aber auch eine Gemeinsamkeit: die sozial geteilte Angst vor dem Tod. Doch im Umgang mit ‚dem‘ Tod hören die Gemeinsamkeiten schon wieder auf. Zur Unterstützung des individuellen, ja singulären Umgangs mit den Toten bieten sich heute nicht wenige Firmen an. Wir zeigen „alternative Möglichkeiten der Abschiednahme auf“, heißt es auf der Website eines solchen Unternehmens. Angehörige der Verstorbenen dürfen sich „aktiv und kreativ an der Planung und Gestaltung des Prozesses vom Tod bis zur Beisetzung beteiligen“.  Es gelte der „Grundsatz: Trauernde dürfen alles und müssen nichts“.

Das war einmal völlig anders: Trauer war nicht nur etwas Individuelles, sondern höchst Kollektives, zeitlich, sachlich und sozial Geregeltes. Das musste schon Kaiser Joseph II. (+1790) erleben, dessen rationale Idee, den sogen. „Sparsarg“ einzuführen, an den kollektiven Vorstellungen über eine legitime Bestattung scheiterte. Wie man im Museum der „Wiener Bestattung“ oder im Stadtmuseum von Bad Saulgau nachvollziehen kann, hatte dieser Holzsarg unterseitig eine Klappe, die mit einem Hebel zu öffnen war, damit der Tote in das Grab fiel und der Behälter für weitere Leichen wiederverwendbar war. „Virtute et Exemplo“, hieß sein Wahlspruch: „Durch Tugend und Beispiel“. Doch in Sachen Sparsarg war er selbst kein Vorbild. Der Exponent des aufgeklärten Absolutismus, der Mozart hofierte, die Bauern befreite, den Adel zurückdrängte, das Religionsmonopol des Katholizismus zerbrach, Hunderte von Klöstern, die wirtschafts- und sozialpolitisch nichts brachten, verbot, Priester zu Staatsbeamten machte, die Gebiete der Pfarreien verkleinerte (!), anordnete, Kultgebäude, die nicht dem Pfarrgottesdienst dienten, einfach zuzusperren, und damit beliebte Heiligenkulte verunmöglichte, befahl, „die Marienstatuen seien von ihren barocken Gewändern zu entkleiden“ (Peter Hersche), fiel am Ende seiner vielen Reisen nicht durch die Falltür eines Sparsargs. Doch viele seiner Reformen fielen durch und zerschellten unter dem Schlachtruf ‚Viva Maria‘. Der Kaiser wurde in einen Eichensarg gebettet und in der Kapuzinergruft bestattet; sogar mit seinem Herzen und all seinen Innereien. Denn er verzichtete auf die sogenannte ‚getrennte Bestattung‘, wie sie bei hohen Herrschaften üblich war, was dazu führen konnte, dass einige an mehreren Stellen begraben wurden und begraben blieben. Ja, die Kaiser.

Und die Päpste? Papst Pius X. soll die Organentnahme für sich abgeschafft haben – das Blut der Toten konnte inzwischen durch konservierende Flüssigkeiten ersetzt und extern aufbewahrt werden. Blutampullen gibt es z.B. noch von Johannes Paul II. Davon besaß Kardinal Meisner auch einige Tropfen – bis ihm der blutige Stoff geklaut wurden. Die Blutstropfen blieben verschwunden und wurden „2017 durch ein zweites Tüchlein mit Blut ersetzt. Erzbischof Rainer Maria Woelki hatte es zu seinem 60. Geburtstag geschenkt bekommen“, wie das Kölner Domradio mitteilte. Und es zitiert den Kölner Kirchenhistoriker Helmut Moll, der auch bei Ratzinger promovierte und als Exorzismusexperte gilt, mit den Worten: „Wir gehen davon aus, dass im Körper eines Seligen eine göttliche Kraft ist, die Wunder, Heilungen und Umkehr bewirken kann”. Ja, auch das ist Katholizismus. Störung der Totenruhe ist das nicht. Viva il papa (so heißt übrigens auch der „Papstkalender 2020“). Mit seinen Blutstropfen „ist Johannes Paul II. in einer besonderen Weise hier bei uns in Köln gegenwärtig”, sagt der Kölner Kardinal. Ja, das kann der Papst.

Die Toten ruhen zu lassen, konnte auch heißen, sie sitzen zu lassen. Denn auch Sitzsärge gab es, aber sie waren weder wiederverwertbar, noch konnten auch sie sich als Innovation auf dem Markt etablieren. Sie waren bloß eine ‚Invention‘, keine ‚Innovation‘, hätte Joseph Schumpeter gesagt. Sitzsärge gibt es noch als hölzerne Ausstellungsstücke und es gibt sie ja – eigentlich nicht wirklich („Ceci n’est pas une pipe“) – auf einem berühmten Gemälde des belgischen Surrealisten René Magritte (+1967) zu bestaunen, auf dem er die berühmte Madame Récamier einsargte (eine Abbildung findet sich im Internet auf: http://www.bestattungsmuseum.at).

Heute kann man die Toten in den Särgen auch zur Seite drehen, statt sie klassisch auf den Rücken zu legen, man kann sie mit der eigenen Bettwäsche zudecken und auf Rosen oder Heu betten. Ökologisch ist noch viel mehr möglich, wird versprochen. Auch Bausätze für Särge finden sich im Produktsortiment einiger Bestattungsunternehmen. Ja, das gibt es: „Man schiebt die Feder in die Nut vorgesägter Holzbretter, schraubt diese anschließend zusammen, und wenn man alles richtig gemacht hat, ist der Do-It-Yourself-Sarg … bereit zur Inbetriebnahme“, kommentiert Alexander Dick von der Badischen Zeitung dieses „Basteln an den letzten Dingen“. Manche würden, so meint er, das Selbstgezimmerte auch verschenken, „oftmals auch mit Liebe und in grellen Farben bemalt. Selbstgebasteltes zu verschenken ist ohnehin voll im Trend. Und wirklich, bevor man wider irgendwelchen unnützen Tand wie Computerspiele oder Lichterketten darreicht: Ein Sarg ist etwas Bleibendes. Wenigstens bis zum Tod“.

Und was kommt danach? Auch nichts mehr, was einmal war. Die moderne „Bastelexistenz“ (Ronald Hitzler/Anne Honer) scheint sich auch im modernen Jenseits fortzusetzen. Eine Bastelexistenz zu führen, ist eine unserer „massenhaften banalen Alltagserfahrungen: Der individualisierte Mensch ist nicht nur selber ständig in Wahl- und Entscheidungssituationen gestellt, sondern auch mit immer neuen Plänen, Entwürfen und Entscheidungen anderer Menschen konfrontiert, welche seine Biographie mehr oder weniger nachhaltig tangieren“, schreiben Hitzler und Honer (Bastelexistenz: über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/5602). So hören für immer mehr Menschen hierzulande die letzten Dinge schon mit dem Begräbnis auf (s. oben). Für die theologische Tradition dagegen fangen die „Letzten Dinge“ (groß geschrieben) dann erst an; jedenfalls die Letzten Dinge der Einzelpersonen. Zu diesem eschatologischen Sinn-Dach, das andere schon längst abgedeckt haben, gehören laut katholischer Tradition – lassen wir einmal das weitere Sinn-Dach der Letzten Dinge der ganzen Schöpfung (Ende der Welt, Wiederkunft Christi, Jüngstes Gericht …) beiseite –  der Glaube an ein individuelles Totengericht, an das Fegefeuer, an Himmel und Hölle. Auch an diesen Letzten Dingen wird heute herumgebastelt, nicht nur außerhalb der Kirche. „Wer tot ist, muss sehen, wo er bleibt“, betitelte Hannes Hintermeier seine FAZ-Besprechung des Buches („Post mortem“) von Michael Jürgs. Untertitel: „Was ich nach meinem Tod erlebte und wen ich im Jenseits traf“ (2019). Die von Reportern im Diesseits oft gestellte Frage, welche historische Person sie gern interviewen würden, ist im Jenseits dieses ehemaligen, an Krebs verstorbenen Chefredakteurs des ‚Stern‘ „kein Spiel mit Konjunktiven, sondern machbar“, so schreibt er. Und die Tyrannen des Diesseits müssen zur Vergeltung in Jürgs Jenseits reden ohne Unterlass, können sich selbst aber nicht mehr hören, sondern nur noch die Schreie ihrer Opfer.

Auch innerhalb der Kirche hört das Basteln an den Letzten Dingen nicht auf (vgl. Der Kampf um Hölle und Fegefeuer. Ein soziologischer Blick. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 167/2019, 115-124; auch online: http://www.thpq.at/ 2019/ quartal_02/b1_ebertz.html). Der Prozess des Abdeckens dieses Sinn-Dachs, der außerhalb der Kirche anfingt, wird heute innerkirchlich fortgesetzt. Dabei wird insbesondere versucht, das gewaltmetaphorisch besetzte Jenseits (z.B. der Hölle oder des Fegefeuers) abzutragen und ein himmlisches Golddacherl zum Glänzen zu bringen, um sich – auch im Kontrast zu bestimmten evangelikalen Spielarten des Christentums – als Repräsentanten einer dezidiert gewaltfreien, ‚humanen‘ und zivilisierten, ja heiteren „Jenseitsreligion“ zu profilieren. Damit gerät man freilich angesichts der ‚objektivierten‘ Präsenz von Höllenbildern bis in kleinen Dorfkirchen hinein in ein Basteldilemma. Wie soll man die Schindeln und heiß gebrannten Ziegel dieses überkommenen Sinn-Dachs entsorgen? Was gilt dann noch, wenn das, was gestern galt, heute nicht mehr gilt? Weshalb sollte das, was heute gelten soll, morgen noch gelten? Ist dann nicht auch der ‚Himmel‘ zu entsorgen, also das ganze Dach abzudecken?

Anders als beim Bau des Do-It-Yourself-Sargs, wo man „alles richtig“ machen muss, scheint das Basteln an den wirklich Letzten Dingen die Unterscheidung von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ gar nicht mehr zu kennen. Die großen Sinn-Dächer sind abgedeckt, an ihre Stelle sind selbstgebastelte Hütchen getreten.  Corona lässt vieles sichtbar werden, unter anderem die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, aber auch die sozial geteilte Angst vor dem Tod. Corona lässt noch mehr als bisher sichtbar werden, dass die sozial geteilte Angst vor dem Tod keine geteilte heilsame Antwort innerhalb der scheinbar einen Kirche findet. Eine einheitliche christliche Antwort gibt es sowieso nicht, eine gemeinschaftliche Antwort einer Kirche auch nicht, auch nicht der römisch-katholischen. So macht sie sich sozial weitgehend irrelevant. Finito. ‚Systemrelevant‘ ist sie schon längst nicht mehr.  Wer hört die Schreie der metaphysisch Heimat- und Obdachlosen?