Was gibt es heute?
Spirit – oder: Das Leibgericht

Das Überschreiten des Alltags hin zu einem ‚Geheimnis‘ darüber oder dahinter kann schon – ganz praktisch – in der Badewanne beginnen. Nein, es – oder man – muss dort nicht enden. Auch der Gesang außerhalb der Badewassers oder das Schweigen in der Trockenheit der Wüste kann für Spiritualität öffnen. Dann gehen vielleicht, wie einer meiner soziologischen Lehrer, der vor vier Jahren verstorbene Thomas Luckmann, gesagt hätte, die ‚kleinen Transzendenzerfahrungen‘ in ‚große Transzendenzerfahrungen‘ über – in Träume und Ekstasen (vgl.  Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991, 167ff). Vielleicht ist die Badewanne der Startpunkt für weitere Überschreitungen?

 

Wenn ‚Spiritualität‘, wie ich sie einmal definiert habe, das Übersteigen einer Grenze zu einem Geheimnis hinter oder über meinem alltäglichen Leben ist, dann lässt sich mit dem Philosophen der neuen Phänomenologie (Hermann Schmitz, Gefühle sind keine Privatsache, in: Philosophie-Magazin, H. 2/2017; https://philomag.de/gefuehle-sind-keine-privatsache/) sagen:

„Der Leib überschreitet die Grenzen des biologischen Körpers. Das Behagen in der warmen Badewanne zum Beispiel endet nicht mit der Haut, sondern verschwimmt ins Wasser. Der gespürte Leib ist also völlig anders ausgedehnt als der fleischliche Körper. Man kann das Verhältnis von Körper und Leib mit dem Verhältnis von Gesang und Sängerin vergleichen. Ihr Gesang lässt sich in seiner Entstehung auf ihren Sprechapparat, also den Körper zurückführen, aber anders als dieser dehnt er sich unteilbar, flächen- und randlos aus“.

Der Leib ist der jedem Menschen „in der vorbegrifflichen Lebenserfahrung das Nächste als der Herd und Umschlagplatz aller Empfänglichkeit und reagierenden Initiative“, wie Schmitz (Der Leib, Berlin 2011, 153) schreibt. Der Leib ist für ihn „der Ausgangs- und Bezugspunkt unserer gesamten Wahrnehmung, unseres Erlebens und Fühlens […]. Wenn ich vom Leib spreche“, sagt er, „dann meine ich nicht den menschlichen Körper, den wir betasten und über unsere fünf Sinne wahrnehmen können, sondern all die Regungen, die wir in dessen Gegend spüren. Beispielsweise Hunger, Lust, Angst oder Frische“ (Schmitz 2017). Leiblich ist also, „was jemand in der Gegend […] seines Körpers von sich selbst (als zu sich selber, der hier und jetzt ist, gehörig) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne […] zu bedienen“ (Schmitz 2011, 5). Es geht darum, „sich selbst zu spüren, wie kein anderer einen spüren kann“, und sich einer im Alltag häufig „verdeckten Wirklichkeit“ zu nähern (Schmitz 2017).

Empirisch ist schon längst klar, dass Religiosität, Frömmigkeit und Spiritualität zu unterscheiden sind. Zwar kann es sein, dass auch die Religiösen von Spiritualität reden und auch die Frommen; aber die, die sich für ‚spirituell‘ halten, reden in der Regel nicht davon, dass sie auch fromm seien – und auch nicht unbedingt religiös. Spirituelles hat sich der Kontrolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften entzogen, es hat ihre Grenzen überschritten, ist, so gesehen, säkular geworden, säkularisiert worden. In dieser Entgrenzung weist der Begriff aber zugleich über das rein Säkulare, Weltliche, Mundane hinaus – aber wohin?

Die Freisetzung des Spirituellen aus der Kontrolle der religiösen Institutionen hat auch die Antwort auf diese Frage entgrenzt. Jede und jede kann sie stellen und geben, mehr an Verbindendem und Verbindlichkeit ist da nicht (mehr) zu haben. Das Spirituelle ist nicht mehr definierbar, wird amorph und uneindeutig. Es ist „etwas nicht Festgelegtes“, wie es in einer kürzlich erschienenen Studie von Lilith Hildebrand (Ressource Spiritualität? Empirische Erkenntnisse aus der Arbeit mit trauernden Menschen, Konstanz: Hartung-Gorre 2020) heißt. Es ist etwas „ganz Weites“, sagt eine andere Person, die interviewt wurde. Aber die Befragten, die den Ausdruck verwenden – nicht alle beteiligen sich daran – , deuten über den Alltag hinaus.

Es gibt ein „Geheimnis hinter oder über unserem normalen Leben“ – das glauben fast drei Viertel der von uns einmal in Hessen repräsentativ Befragten, mehr Frauen (80%) als Männer (66%), aber auch die noch in Zweidrittelstärke (vgl. Michael N. Ebertz/Meinhard Schmidt-Degenhard, Was glauben die Hessen?, Berlin 2014). Ja, die Hessen! Dabei können sie das Geheimnis des Lebens als kosmische Energie (‚kosmische Spiritualität’) oder ‚Natur‘ deuten  seine Deutung speist sich aus alternativen kulturellen Quellen, die nicht zum vorherrschenden Kanon der westlichen Gesellschaften und ihrer kulturellen Tradition zählen. Auch der eigenen Projektionsphantasie und Synkretismusfreude sind anthropologisch kaum Grenzen gesetzt, und gesellschaftlich dürfen sie heute ohne negative Folgen kommuniziert werden. Die religiösen Institutionen beißen nicht mehr, vielleicht sollte man sie gerade deshalb gar nicht mehr ‚Institutionen‘ nennen, da der soziologische Institutionsbegriff – seit Emile Durkheim – diesen Autoritätsbiss immer mitdenkt.

Das Spirituelle ist aus der Steuerung der religiösen Institutionen in die Regie zum einen (1.) der Individuen übergegangen. Diese Individualisierung, ja Singularisierung von ‚Spiritualität‘ funktioniert nach dem Motto: ‚Was spirituell heißt, definiere ich!‘. Gegenwärtig wollen die Individuen ihre Spiritualität nicht mehr von den Institutionen vertreten lassen, sondern unvertretbar erfahren, erleben, erspüren. Das sagt selbst die Mehrheit der von uns repräsentativ befragten Caritas-Mitarbeiter*innen (vgl. Michael N. Ebertz/Lucia Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche, Würzburg 2016). Die Sorge, dass mit ‚spirituell‘ immer noch Religiöses, gar Frommes gemeint sein könnte, schwingt freilich in vielen Interviews mit.

Zum anderen (2.) ist das Spirituelle inzwischen auch in die Regie von nichtreligiösen Profis, z.B. aus der Medizin und der Psychotherapie, übergegangen. In der heutigen Zeit, so schreibt die Ärztin Gabriele Stotz-Ingenlath (Spiritual Care in den Gesundheitsberufen – Notwendigkeit und Grenzen. In: Einblicke. Journal der Hochschule [KHSB], Sommersemester 2019, 4-11, hier 5), werde „Seel-sorge […] eher von Expert*innen in Psychiatrie, Psychotherapie, Heilpraxis oder Pflege erwartet als von Geistlichen“. In Deutschland wurde 2010 erstmals an der LMU München eine Professur für Spiritual Care eingerichtet, 2015 folgte eine ähnliche Professur in der Schweiz. Eine „Internationale Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS)“ gibt die Zeitschrift „Spiritual Care“ heraus. „Schulungen in ‚Spiritual Care‘ werden z.B. für niedergelassene und Hausärzt*innen, für Beschäftigte in Behinderteneinrichtungen und Altenheimen, für Pflegeberufe, für Sozialarbeiter*innen und für Klinikseelsorger*innen angeboten“ (Stotz-Ingenlath 2019, 6). Inzwischen gibt es einschlägige Forschungen mit standardisierten Fragebögen, z.B. den „SPNQ“, den „Spiritual Need Questionaire“, der von dem Arzt Arndt Büssing entwickelt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.

In einer neueren – noch nicht veröffentlichten – empirischen Auswertung von Pastoralberichten eines großen deutschen Bistums konnten wir feststellen, dass die Seelsorge an Einzelpersonen in der Praxis total unterbelichtet bleibt. Die Einzelpersonen scheinen den Seelsorgeprofis gar nicht mehr im Blick zu sein. Vorwürfe, die in die gleiche Richtung zielen, wurden auch in der Corona-Krise laut: Die Kirche habe die Kranken und Sterbenden allein gelassen. Ob das so stimmt oder nicht: Es gibt deutliche Hinweise, dass die Kirchen immer mehr Aufgaben abgeben, die ehedem zu ihren ‚specials‘ zählten: Die Kommunikation von Schuld wird an die Psychotherapeuten, die Arbeit im Umkreis von Sterben, Tod und Trauer an ‚Trauerakademien‘ von Beerdigungsunternehmen und selbständige Ritendesigner externalisiert. Die Kirchen entleeren sich von diesen und an anderen Spezialitäten und leeren sich in den Beichtstühlen und an Sonntagen. Die ‚Hirten‘ sind mit ihren ‚Herden‘ beschäftigt, und das schrumpfende Kollektiv dreht sich im geschlossenen Kreis, um weiter zu schrumpfen. Momentan laufen in den meisten Bistümern organisierte Prozesse zur Beschleunigung des Schrumpfens statt zur Beschleunigung von Wachstum: Jammernd, leidend, leidenschaftslos. Wirkliche Seelsorger und Seelsorgerinnen muss man auf dem freien Markt suchen oder bei sich selbst: ‚Herd‘ des Leibes statt ‚Herde‘ der Leiber! Jeder und jede wird zur eigenen Sekte, zum eigenen Priester, zur eigenen Priesterin. Schon in der Badewanne … wenn man eine hat.