Was gibt es heute?
Filo di perle – oder: Himmlisches Urlaubsgericht

Urlaub – was für ein Wort! Dieses deutsche ‚Ur‘ … und dieses ‚Laub‘ aus dem deutschen Wald! Ur-Laub – Italiener rollen gern das ‚R‘ dieses urdeutschen ‚Ur‘. Ich erinnere zum Beispiel ‚Urmensch und Spätkultur‘ (von Arnold Gehlen), Ureinwohner, Urbild, Urangst, Urschrei, Urfaust, Ursünde, Urchristen, Uromas oder assoziiere z.B. Auerochsen oder eine der Kei-Inseln im Bereich der Molukken. Insel, also Urlaub.

Es gibt Leute, die machen Urlaub, um die Entfremdung – die Vertreibung aus dem Paradies – wenigstens vorübergehend zu überwinden. Sie wollen für einige Tage dem Himmel nahe kommen, in der Fremde alles Entfremdende vergessen, und vergessen tatsächlich einiges in ihren Hotelzimmern. Beim Rausgehen bleiben Sachen liegen, die dann andere beim Reingehen und Reinigen finden (müssen): Sonnenbrillen, Badeklamotten, ein Ladegerät vom Handy zum Beispiel, oder das telefonilo selbst, wie die Italiener zärtlich sagen. Es bleiben aber auch zarte Personen liegen, 18 Monate alte Babys zum Beispiel. Ja, das gibt es. Es gibt auch Mütter, die vergessen werden, oder Saufkumpanen. Während die einen geduldig warten, träumen die anderen weiter.

Sitzen gelassen werden auch Ehefrauen. Ein Geschäftsmann hatte diesen Wertverlust bemerkt: kurz bevor es in den Himmel ging, beim Einchecken am Flughafen. Verträumt war wohl auch eine Gästin, die trotzdem heiraten wollte: Sie hatte ihr Hochzeitskleid im dunklen Schrank vergessen. Andere vergessen ihre Unterwäsche. Einiges sitzt dann nimmer, was tatsächlich auch schon vergessen wurde: die dritten Zähne. Eine Kuriositätensammlung vor einigen Jahren hat sogar Beißer aus Edelmetall aufgeführt – im damaligen Wert von 8.000 Euro, nach heutigen Goldpreisen mehr als 10.000 Euro. Ganze Koffer werden zurückgelassen. Merkwürdigerweise wurden auch schon Hüftkorsetts aus Echtleder und modulare Beinprothesen vergessen – alles nur Fake? Oder Glasaugen – was für ein Anblick! Ich konnte nicht in den Blick nehmen, ob es Menschenaugen, Puppenaugen oder Tieraugen waren. Auch ganze Sammlungen von Weinbergschnecken blieben einmal beim Auschecken zurück. Die Langsamen sind nicht mitgekommen. Angeblich können sie gut riechen und fühlen, viel schleimen, aber kaum sehen. Wer glaubt denn so etwas? Weinbergschnecken haben in den Enden der beiden langen, oberen Fühler je ein Auge, also zwei. Schöner Ausblick? Jedenfalls vergessen können sie nichts.

Wenn man alle Tiere kombinieren würde, die da in Hotelzimmern zurückgelassen werden, käme die Erstausstattung für ein paradiesisches Setting zusammen: Außer den Kuscheltieren auch Hamster, Hunde, Kätzchen, Schlangen – für ein ‚Albergo paradiso‘ vielleicht. Lämmer und Wölfe wurden in Hotelzimmern freilich noch nicht vergessen, auch kein Löwe, der Stroh frisst wie ein Rind (vgl. Jes. 65,25; vgl. 11,6ff), und auch kein Pfau, der den messianischen Frieden krönen könnte und Engeln und Erzengeln seine Federn gab, jedenfalls in der altdeutschen Malerei (so im Danziger Weltgericht dem Michael). Pius Parsch, der große, aber vergessene Erneuerer der sogen. Volksliturgie, hätte die vergessenen Tiere alle eingesammelt für sein animalisches Paradiesgärtlein um seine kleine romanische Experimentier-Kirche Sankt Gertrud (Stift Klosterneuburg) herum. Der 1954 Verstorbene wollte wie alle Erneuerer aus dem Ur-Sprung heraus kirchliche Gegenwart gestalten und in die Zukunft federn. Konfliktfrei war auch diese pastorale Refiguration vor einhundert Jahren nicht. Es war nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1919, da rief der ‚Herr‘, also Pius Parsch – die Augustiner-Chorherren sind keine ‚Brüder‘ wie die von uns untersuchten Mendikanten, sondern ‚Herren‘ – „die lebendigen Christen von Klosterneuburg zu einer Bibelgemeinschaft auf. Wir“, so schreibt er weiter, „kamen in jeder Woche zusammen und lasen die Hl. Schrift. Es war ein herrlicher Aufbruch. Alles erschien uns neu und groß. Es war uns, als hätten wir einen großen Schätz gefunden […] Zwei Jahre später fanden wir auf demselben Acker einen zweiten Schatz, das war die Liturgie. Mit diesen zwei Schätzen zogen wir durch die Jahre bis zum heutigen Tag. Und wir segnen die Stunde, die uns diese Entdeckung gewährt hat“ – das war 1940 (Pius Parsch, Volksliturgie. Ihr Sinn und Umfang, Klosterneuburg/Wien 1940, 32; neu: 2004 im Würzburger Echter-Verlag).

War da nicht was? ‚Acker und Schätze‘ – diese Wortkombination! Ja, in den Hotelzimmern wurden weitere Schätze vergessen: ein japanisches Yakuzaschwert, eine – ebenfalls goldene – Rolex (60.000 €uro), 3.000 Britische Pfund in Penny-Münzen, Ringe, Armbänder, Perlenketten. Die „Nachttische in den Hotelzimmern sind manchmal voller Überraschungen“, kann man auf einschlägigen Seiten (z.B. https://www.tophotel.de/tui-ranking-was-vergessen-die-gaeste-am-haeufigsten-im-hotel-24826/) lesen. Zimmermädchen erleben noch mehr (s. Anna K., Totale bedient. Ein Zimmermädchen erzählt, Hamburg 2012).

Auch das Himmelreich gleicht einer Person, die schöne Perlen sucht, oder einem Acker, in dem ein Schatz verborgen ist (vgl. Mt 13, 44ff). Diese beiden äußerst knappen Gleichnisse dürften ur-sprünglich zusammengehört haben. Ihnen zufolge verkaufen die beiden Menschen alles, um an die Schätze zu kommen. Während die einen alles in ihrem himmlischen Urlaub vergessen, sogar ihre Schätze verlieren, verkaufen andere also ihre Schätze, um Schätze zu gewinnen. So nah der himmlische Urlaub am Himmelreich ist – er ist es nicht.