Was gibt es heute?
Altneu– oder: Das Traditionsgericht

In Zeiten von Corona sei eines „wirklich ganz neu“, schreibt Rainer Bucher: „Die Erfahrung, dass man eine Gesellschaft ziemlich rapide stillstellen kann“ (Wenn die Münze auf der Kante steht, in: Denken+Glauben. Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen 196/2020). Unabhängig von der Frage, ob die Aussage des Grazer Theologen einer soziologischen Prüfung standhalten könnte, wird aber an ihr und ähnlichen Sätzen anderer deutlich, dass das ‚Neue‘ Schrammen bekommen, ja seinen Verheißungsglanz eingebüßt hat. In das semantische Feld des ‚Neuen‘ – für das, was wir noch nicht kannten, die Legitimationsformel der ‚Modernen‘ –  fügen sich inzwischen dunkle Ausdrücke ein, und es ‚dämmert‘: „Wir haben Wochen und Monate hinter uns, die wir nicht vergessen werden. Gerade weil wir Ängste, Sorgen und Eingriffe bis tief in unser Privatleben hinein erlebt haben und noch erleben, wie wir sie bisher nicht kannten …“, schreibt Joachim Valentin im Editorial des ‚neuen‘ Tagungsprogramms vom ‚Haus am Dom‘ in Frankfurt am Main. Kippt die Waage ins Alte, weil sich das Neue verdüstert? Muss das Alte neu erfunden werden, weil das Neue alt aussieht? Wird nicht nur die „Normalität zur Utopie“ transformiert, wie der Soziologe Manfred Prisching (Denken+Glauben 196/2020) angesichts unübersehbarer „Normalitätssehnsucht“ meint, sondern auch Traditionalität? Wächst sogar Traditionssehnsucht? Nimmt die vom Sinus-Institut schon seit Jahren diagnostizierte ‚regrounding‘-Einstellung zu? Stehen wir vor einem neuen ‚Historismus‘, der einen neuen ‚Jugendstil‘ blockiert?

Es gibt unglaublich erfolgreiche Fernsehsendungen, die leben – beinahe wie Religionen – vom Glanz des Alten. Eine ‚wirklich ganz neue‘ Religion hätte wohl auch keine Legitimität. Ein Tag vor ‚Mariä Himmelfahrt‘ 2020 tritt in der Sitzung meiner – und nicht nur meiner – TV-Lieblingsserie ‚Bares für Rares‘ eine 21jährige Frau auf. Sie präsentiert ein Erbstück ihres Opas, über das sie – so lautet das liturgische‚Confiteor‘ von ‚Bares für Rares‘ –  „mehr erfahren möchte“. Das Sitzmöbel ähnelt der Kathedra in den Kathedralen, wird von dem Kunstexperten Colmar Schulte-Goltz „ins Visier“ genommen und von Moderator Horst Lichter als „richtig alt“, d.h. auf zwei bis dreihundert Jahre geschätzt. Der Stuhl gehörte keinem Bischof, sondern Kims Opa, der eigentlich selbst gern gekommen wäre, um zum ‚Vertrödeln‘ des Stuhls bei „den Händlern“ die berühmte „Händlerkarte“ zu erhalten. „Aber leider hat er es nicht geschafft“, sagt Kim, Opa, „ist gestorben vorher noch“, weshalb sie sich „umso mehr“ freue, „hier zu sein“. Dies sei aber „eine ganz emotionale Geschichte“, kommentierte Horst Lichter, um fortzufahren: „Dann ist er auf jeden Fall mit Dir hier, da bin ich mir ziemlich sicher“ – „Ich auch“, bestätigt Kim, und ich meinerseits denke bei dieser Interaktion an das ‚Amen‘ in der Kirche. Man sieht den Herrn nicht, aber bekennt seine abwesende Anwesenheit, wie sie auch andere kommunikativ bestätigen. Mehr muss man ja nicht nachprüfen. Lichter fährt im Tradierungsmodus fort: „Ich finde es natürlich dann ganz, ganz toll, dass Du im Prinzip das fortführst, was er gern gemacht hätte“. So etwas nennt man – theologisch – auch ‚Nachfolge‘, besser ‚Imitatio‘.

Aber um jene Nachtodgewissheit der Bares-für-Rares-Gemeinschaft und -Dienstleistung geht es mir hier nicht.Schon eher um das auffällige Lob der Tradition, das der Old-Timer-Fan Lichter ausspricht, der im Übrigen darauf hofft, dass der deutsche Vorname ‚Horst‘ bald wieder Mode werde. Mir geht es auch nicht um das traditionelle „Engelchen“ von Händler Waldi – Achtung: Engelerscheinungen hat der Mittelgebirgler nur bei ganz bestimmten Frauentypen! Noch mehr geht es mir darum: Wie sich Lichter – vom Erbstuhl – blenden lässt, täuscht sich auch Waldi: „richtig alt“,ruft er von der Händlertribüne runter: „1750, 1780 so rum“.Vom Experten, dessen Urgroßmutter schon Kunstsammlerin war,wird dagegen der „sehr schön geschnitzte“ und „tatsächlich“ sehr alt aussehende Stuhl von Kims Urgroßvater auf deutlich weniger als die geschätzten zwei- bis dreihundert Jahre taxiert, nämlich als ‚historistisch‘ eingeordnet: er stamme „sehr wahrscheinlich“ von ca. 1880. „Das schöne Stück, das wollte aber den Anschein erwecken, als sei es damals noch viel älter gewesen“, sagt der Kunstexperte. Man habe sich damals „sehr modisch mit den alten Stilen beschäftigt, die eigentlich Jahrhunderte zurück lagen“, insbesondere mit „Übernahmen aus der Zeit der Gotik“. So mache dieser neugotische Stuhl Anleihen bei der Zeit von 1470 bis 1500, habe einen „fast architektonischen Aufbau“, an der Lehne z.B. „hochaufragende Stücke rechts und links“,auch viele Schmuckformen (z.B. Krabben)einer gotischen Kathedrale, etwa des Kölner Doms, der „in den Himmel wächst“. Aber „das Sitzkissen“, meint Horst Lichter, sehe doch, anders als der Dom „so aus, als wäre es schwerst auseinanderamfliegen“, es scheine tatsächlich „noch der alte Stoff zu sein“.  „Purpurfarbig“ war das früher gemustert, belehrt dann ein anderer Händler, der den Stuhl auch „witzig“ findet, und er ergänzt nach dem Verkauf an „unseren Julian“: „Stell Dir mal vor, wenn der wirklich aus dem 15. Jahrhundert wäre, dann wäre das der Knüller. Aber er ist gut geschnitzt, eine tolle Arbeit“.

Praktiziert nicht jeder Zauberer einen ‚Historismus‘? In der Badischen Zeitung an Mariä Himmelfahrt 2020 wirbt eine „echte Wahrsagerin“ für das „Kartenlegen nach alter spiritueller Tradition“. Ist nicht auch das spirituelle Großunternehmen ‚Kirche‘ ein ständiger ‚Historismus‘? Wird nicht gerade in der Katholischen Kirche immer wieder neu darum gekämpft, was als legitime und illegitime Tradition gelten soll, wie Peter Walter in einigen seiner lehrreichen Aufsätze herausgearbeitet (s. etwa Kontinuität oder Diskontinuität?, in: Ders., Syngrammata, Gesammelte Schriften zur Systematischen Theologie, Freiburg 2015, bes.. 317ff) hat? Der vor einem Jahr am 21. August verstorbene Freiburger Dogmenhistoriker aus Bingen bringt viele kirchenhistorische Beispiele dafür, „etwas so erscheinen zu lassen“, als ob in der Katholischen Kirche immer die Kontinuität in Führung gegangen sei. Kommt es von ungefähr, dass das vor 150 Jahren „von Gott geoffenbarte Dogma“ von der Unfehlbarkeit des Papstes und seines Universalepiskopats etwa so alt ist wie die ‚cathedra‘ bei ‚Bares für Rares‘?

Hubert Wolf hat jüngst diese beiden ‚ex cathedra‘-Dogmen als erfundene Tradition interpretiert. Seit 1870 müssten Katholiken und Katholikinnen sogar „etwas glauben, was vorher als falsch gegolten hatte“ (Die Erfindung des Katholizismus, FAZ vom 03.08.2020). Ja, das gibt es. Dabei greift Wolf auf das ideologiekritische, also bissige Konzept von Eric Hobsbawm und Terence Ranger zurück, die damit Phänomene erfassen wollten, die in der jeweiligen Gegenwart neu entwickelt, aber in die Vergangenheit zurückprojiziert werden – so, als ob es das Neue ‚schon immer‘ gebe, gegeben habe oder nur neu entdeckt und ‚zur Blüte‘ gebracht wurde. Das Neue wird als Neues „kaschiert“, also vertuscht, das Alte ist nur „angeblich“ alt. Die so erzeugte ‚fiction‘ sollte als solche verneint und als ‚faction‘ der Tradition erlebt und zur Geltung gebracht werden: als „richtig alt!“.  Nicht die Nützlichkeit wurde hierbei zum Legitimationskriterium, auch nicht ‚das Neue‘, sondern das Leben in überlieferten Ordnungen;und dies gerade zu einer Zeit, in der ‚das Neue‘ zu einem der Machtworte des Zeitgeistes geworden war. Neu war freilich auch, dass ein Papst von sich behauptete, selbst die Tradition zu sein („La tradizione sono io“), also die Singularisierung der Tradition. Die Würde der – wenn auch erfundenen und als Erfindung geleugneten – Tradition wurde hierbei in Szene gesetzt gegen das Modische, ja Moderne, das seine Aura dadurch gewinnt, dass es mit dem Alten bricht. Und wie das Neue kann auch das als Tradition neu Erfundene damit rechnen, dass es rasch altert, jedenfalls alt aussieht und wie das Sitzkissen aus ‚Bares für Rares‘ „auseinanderamfliegen“ ist. Allerdings zielt die erfundene Tradition, so die Erfinder des Konzepts, „darauf ab, bestimmte Verhaltenswerte und -weisen durch Wiederholung zu festigen, was von sich aus die Kontinuität mit der Vergangenheit beinhaltet“ (Eric Hobsbawn/Terence Ranger, The Invention Of Tradition,Cambridge 1992).

Gerade erfundene Traditionen müssen gepflegt werden. Es gibt Kunsthändler wie Waldi und ‚Old-timer‘ wie Lichter, die sich vom Licht-Schein der Tradition blenden lassen, und es gibt Historiker wie Kunsthistoriker, die über Traditionserfindungen aufklären.‚Gut geschnitzt, eine tolle Arbeit‘ können sie ja dennoch sein. In der Katholischen Kirche z.B. seien momentan wieder „Kräfte“ am Werk, die „besonders unbeirrt“ und „offen oder verdeckt an einer Wiederaufrichtung der alten Ordnung … arbeiten“, schreibt Joachim Valentin aus dem Haus am Dom weiter. Corona scheint günstig für ‚inventions of tradition‘ zu sein.