Was gibt es heute?
Heilig’s Blechle – oder das Löffelgericht

Während der Corona-Pandemie wurde den Kirchen immer wieder attestiert, nicht systemrelevant zu sein. Was auch immer das heißt: Die Pandemie war (und ist) höchst systemrelevant für die Kirchen selbst. Und sie brachte überdeutlich hervor, dass sich die Identität einer Kirche mindestens dreifach manifestiert, nämlich in Kämpfen, Körpern und Artefakten. Das hat André Armbruster noch vor der Pandemie sehr anschaulich im Anschluss an Pierre Bourdieu gezeigt: Wie Religion richtig zu praktizieren ist, ist umkämpft (André Armbruster, Die dreifache Konstitution von Kirche als Kampf, Körper und Artefakt, in: Dietmar Schon, Hg., Identität und Authentizität von Kirchen im ‚globalen Dorf‘, Regensburg 2019).

Die Pandemie heizte nicht nur die Kämpfe im Feld der Religion an, sondern erhitzte auch die Körper. Und sie brachte die Bedeutung von Artefakten ans Licht, die sonst eher klein und unscheinbar im Schatten verblieben, aber unverrückbar zur „Identitätsausrüstung“ (Erving Goffman) einer Religion gehören.

 

Bei diesen Artefakten der Identitätsausrüstung denke ich somit nicht primär an die großen Kirchengebäude, deren Schließung von einigen Klerikern und Gläubigen heftig bekämpft wurde, verhindere sie doch, dass „das Coronavirus mit Gebet und Zuflucht zu allen wundertätigen Gnadenmitteln […] besiegt“ und der „Vormarsch der ‚teuflischen Seuche‘“ auf diese Weise gebremst werde. So schallte es aus dem östlich-orthodoxen Raum, wo unbotmäßige Bischöfe sogar verhaftet wurden (Griechenland). Der Bischof von Aetolia, der – wie viele Impfgegner unter der Athos-Mönchen  – inzwischen selbst an Covid-19 verstarb, meinte, ein Kirchengebäude sei ein heiliger Ort, wo Gott es nicht zulasse, dass man sich anstecke. Ein Ungläubiger sei, wer sich unter Pandemiebedingungen nicht in eine vollbesetzte Kirche traue (vgl. BZ vom 07.01.2022). Wer sich hineintraute, aber mit Mundschutz, konnte jedoch von dem einen oder anderen Popen hinausgeworfen werden: Eine Messe sei kein Maskenball.

Manchmal auch die Anordnungen der Staatsgewalt verletzend, fanden in vielen von der östlich-orthodoxen Kirche geprägten Ländern durchaus Gottesdienste statt. Und manche Popen glauben bis heute, dass die beste Medizin gegen Corona die heilige Kommunion sei. Da aber die übliche Verteilung der Kommunion aus dem gemeinsamen Kelch mit einem – wohlgemerkt demselben – ‚Heiligen Löffel‘ geschieht, wurde diese Praxis zum Ansteckungsrisiko. In vielen orthodoxen Kirchen wird nämlich „für die Kommunionausteilung Brot und Wein vom Priester in einem Kelch gemischt zu einer Art Brei, der mit einem für alle benutzten Löffel den Gläubigen direkt in den Mund gegeben wird“, erläutert der Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (71/2020). Körper (Mund) und Artefakte (Löffel) kommen hier als Identitätsmerkmal zusammen.

Die kirchenoffiziellen Reaktionen auf die Pandemie waren durchaus (auch) kreativ: So sollte der Löffel erst gar nicht mit dem Mund berührt werden können, indem man zu Hause bleibt und die Anwesenheit von Körpern insgesamt verhindert (Russland): Modell Eucharistiefasten. Oder sich den Gottesdienst lieber online anschauen (Ukraine): Modell der digitalen Präsenz. Anderswo wurde der Kommunionempfang für die Gläubigen ausgesetzt und nur den Klerikern gestattet (Deutschland): Modell Klerikalismus. Mit dem Löffel sollte den Gläubigen ein Stück mit Wein getränktes Brot nicht in den Mund, sondern in die Hand gegeben werden (Serbien): Modell Trennung von Kopf und Hand. Nach der traditionellen Kommunionausteilung durfte der gemeinsame Abendmahlslöffel immerhin mit Alkohol desinfiziert werden (Russland): Modell Säuberung. Statt eines gemeinsamen Löffels mussten Einweglöffel benutzt werden (USA): Modell Individualisierung. Die Menschen, die Angst vor einer Ansteckung hatten, durften sogar den Priester bitten, ausnahmsweise „die Kommunion auf einem selbst mitgebrachten Löffel mit ihnen zu teilen. Man dürfe es vorübergehend auch vermeiden, die Ikonen in der Kirche zu küssen und stattdessen nur die eigenen Ikonen zuhause küssen“, heißt es in einem rumänischen Pressedienst weiter:  Modell Privatisierung.

Viele dieser kreativen Reaktionen der Kirchenleitungen stießen nicht selten auf widerständige Reaktionen, auf Empörungen, die ihrerseits wiederum Reaktionen der Kirchenleitungen auslösten. So beeilte man sich zu erklären, dass keinesfalls die heilige Kommunion selbst „Quelle von Krankheit und Tod“ sei, sondern nur die körperliche „Präsenz eines kranken Menschen“ und das Artefakt des Bestecks. Das unscheinbare Artefakt des alle Körper verbindenden Heiligen Löffels wird in der Pandemie zum Gegenstand des Kampfes, weil er für die orthodoxe Kirche selbst steht, die sich in der Eucharistiefeier mit Kelchkommunion gegründet sieht. Der Löffel kann hier tatsächlich nicht abgegeben werden, ohne sich selbst aufzugeben. Die löffellose Kirche gerät in eine Krise, kommt es doch – mit Bourdieu gesagt – zur „Diversifizierung des Rituals“ und zur „Trennung der Bestandteile des kirchlichen Rituals – Akteure, Gerätschaften, Zeitpunkte, Stätten – (,) die bisher unauflöslich in einem System verbunden waren“ (Pierre Bourdieu, Die autorisierte Sprache). Zugleich symbolisierte sich darin eine Zerreißprobe der Orthodoxie, in die sie seit einigen Jahren aus anderen Gründen gekommen ist.

Heilig’s Blechle, würden da vielleicht die Schwaben sagen, weniger um ihrer Empörung, als ihrem Erstaunen Ausdruck zu geben. Denn aus evangelischer und aus katholischer Sicht  kommt es ja auf einen gemeinsamen Heiligen Löffel nicht an. Jenseits des Atlantiks fanden andere Konfessionen andere Heilig’s Blechle-Corona-Lösungen. So drehte sich die Debatte in der Episkopalkirche, also der anglikanischen Kirche der USA, um das Für und Wider der sogenannten ‚Drive-Through Communion‘, belehrt uns der oben genannte Materialdienst: Drive-through können sich die vorbeifahrenden Autofahrer*innen „ihr ‚Abendmahlpäckchen‘ mitnehmen“. Der Weg zur Einheit und Identität aller Christ*innen ist  kein leichter, jedenfalls auch ein Kampf um Körper und Artefakte.