Was gibt es heute?
Leiden und glauben – oder: Das Wundengericht
Was machen nun all die armen Leute, die den Evangelikalismus mit dem Trumpismus verbunden haben? Ist Donalds Niederlage auch eine Niederlage ‚ihres Jesus‘? Selbst wer sich als Christ oder Christin der Evangelikalen schämt und erst recht dafür, dass sie Trump betend, singend, predigend, prophezeiend, eifernd und wählend unterstützt haben, sollte sich keiner allzu großen Hoffnung hingeben, dass sie sich durch Trumps politische Niederlage religiös widerlegt sehen und ihr Wachstum in der religiösen Landschaft der USA gebremst wird. Während Trump nach seiner Niederlage weiterfightet, ficht das Ganze die Evangelikalen nicht an. Höchstwahrscheinlich werden sie ihr Marktsegment weiter ausbauen, zumal das katholische Produkt ‚vercarrickt‘ ist, wie der endlich am 10. November 2020 veröffentlichte Bericht des Vatikans nahelegt (s. http://www.vatican.va/resources/resources_ rapporto-card-mccarrick_2020 1110_en.pdf).
Die freundschaftliche Nähe des heiliggesprochenen Heiligen Vaters Johannes Paul II. zum pädokriminellen – inzwischen degradierten – Kardinal McCarrick und seine Mitwisserschaft, was die harten und mehrfach bezeugten Vorwürfe gegen ihn angeht, wird darin ebenso deutlich, wie ehedem seine freundschaftliche Nähe zum – 2008 verstorbenen – Päderasten Marcial Maciel Degollado, dem Gründer der Legionäre Christi, bekannt wurde. Diesem von seiner Mission überzeugten Charismatiker, über den auch Kardinal Angelo Sodano – wie auch über den Wiener Kardinal Groer – seine schützende Hand gehalten haben soll, wurde „die Gnade zuteil, mit dem Heiligen Vater im Apostolischen Palast zu Mittag oder zu Abend zu essen“. Das alles, obwohl schon seit den 1940er Jahren Anschuldigungen (‚Lügner‘, ‚Trinker‘, ‚Dieb‘, ‚Entführer‘) aus dem Vatikan und von anderen „guten Menschen“ gegen Degollado vorgebracht wurden, wie er selbst in einem Interview sagt (Marcial Maciel LC, Christus ist mein Leben, Rom 2005). Solche Vorwürfe hätten, so sagt er doch tatsächlich höchst selbstbezüglich weiter, zu „meiner noch stärkeren Bindung an das Mysterium Christi beigetragen“, also keinesfalls dazu geführt, von seiner „Mission“ abzulassen. Denn „der Priester“, so Marcial Maciel weiter, sei ja „auch Mensch, ein Mann wie jeder andere, mit affektiven und sexuellen Neigungen. Wenn er auf die eheliche Liebe und die Gründung einer Familie verzichtet, so tut er das, weil er das Charisma des Zölibats empfangen hat, um sich ausschließlich der Liebe zu Christus und der Kirche hingeben zu können […] Aber diese Gabe verändert nicht die menschliche Natur mit all ihren Neigungen und Leidenschaften, die leider durch die Sünde verletzt sind“. Auf Ehe und Familie hat der Ordensgründer zwar verzichtet, aber nicht auf Sex mit Minderjährigen, jungen Ordensbrüdern und zwei Frauen, auch nicht auf drei Kinder, die er gezeugt hat. Mehr als 60 Kinder und Jugendliche sind Opfer seiner sexuellen Gewalt geworden, zudem 175 Minderjährige durch 33 Priester seines Ordens, der Legionäre Christi. Erst Papst Benedikt hatte Maciel sanktioniert, sein Vorgänger samt seiner Entourage von ihm profitiert.
Abgesehen davon, dass der religiösen Kommunikation „vielfach die Rückversicherung an der Wahrnehmung abgeht“ (Hartmann Tyrell, Religiöse Kommunikation: Auge, Ohr und Medienvielfalt, 2008), um Glaubensgewissheit zu erlangen, konnten die Legionäre Christi mit Unterstützung höchster kirchlicher Autorität weiterbestehen. Sie werden wohl weiterwachsen, obwohl ihr Gründer das „Keuschheitsgelübde“ genauso brach wie das Gelübde der Armut. Auch die Evangelikalen werden wohl weiterwachsen, obwohl Trump, der mit der Bibel posiert, ohne sie zu beherzigen, verloren hat. Die Koalition der Evangelikalen mit ihm wird ihnen nicht schaden; auch nicht, dass ein mit göttlicher Inbrunst und prophetischem Gestus vorausgesagtes historisches Ereignis, der Sieg Trumps, mit dem sie ihren christlichen Glauben verbunden haben, nicht eintraf. Denn Religion hat noch andere Mechanismen, um Glauben und Wachstum zu erzeugen.
Der 1989 verstorbene Sozialpsychologe Leon Festinger hat in seiner bahnbrechenden Studie (When Prophecy Fails, New York 1956) gezeigt, dass eine religiöse Gruppe nicht unbedingt kollabieren wird, wenn ihre Glaubensvorstellungen durch bestimmte Ereignisse widerlegt werden. Am Beispiel einer Sekte, deren Voraussagen des Weltuntergangs ausblieben, konnte er es zeigen. Die Nichtbestätigung ruft zwar erhebliche kognitive Dissonanzen hervor. Und diese werden als so unangenehm empfunden, dass sie dazu drängen, sie zu verleugnen, zu vertuschen oder herunterzuspielen, um reduziert zu werden. Für Festinger ist es neben anderen Wegen der Dissonanzreduktion, z.B. einigen Rationalisierungen (z.B. schlechte menschliche Natur, wir haben zu wenig gebetet, unvollständige Informationen gehabt, zu lau geglaubt), insbesondere der Bekehrungseifer, der als Technik zur Verminderung der Dissonanz im religiösen Feld wirksam wird. Er wird getragen von einer spezifisch religiösen Annahme: Umso mehr Menschen davon überzeugt werden können, dass das Glaubenssystem richtig ist, um so offensichtlicher ist es, dass es richtig ist („If more and more people can be persuaded that the system of belief ist correct, than clearly it must, after all, be correct“).
Zum Bekehrungseifer als Antwort auf schmerzliche Dissonanzen kommt es dann, wenn (1.) die Glaubensvorstellung mit tiefer und handlungsrelevanter Überzeugung verbunden ist, wenn sie (2.) von einem Engagement getragen ist, das schwer rückgängig zu machen ist, und wenn sie (3.) von einer Gruppe vertreten wird, deren Mitglieder sich wechselseitig darin bestärken. Als weitere Bedingung für einen wachsenden Bekehrungseifer werden von Festinger noch (4.) Glaubensvorstellungen genannt, die durch Ereignisse in der ‚reale Welt‘ zweifelsfrei widerlegt werden können, und (5.), dass solche widerlegbare Ereignisse eintreten und von den Glaubenden überhaupt zur Kenntnis genommen werden.
Aber selbst dann, wenn der Bekehrungseifer in der Gruppe ausbleibt, weil nicht alle Bedingungen erfüllt sind, zerfällt sie nicht. Der Zerfall bleibt aus, so zeigen Folgestudien zur Theorie der kognitiven Dissonanz, wenn es gelingt, die Nichtmitglieder der Gruppe lächerlich zu machen oder moralisch abzuwerten (Wahlbetrug, Diebstahl von Stimmzetteln usw.; Diffamierungskampagnen gegen kirchliche Würdenträger; Neider), und oder wenn die Existenz der eigenen Gruppe als bedeutsamer und die Abhängigkeit von ihr als größer eingeschätzt wird als das Ereignis, das widerlegt wurde. Man schlürft dann gemeinsam – und von Generation zu Generation – den Saft der schmerzenden Wunde der Dissonanz und kommt so über die Runden – nicht nur bei amerikanischen Evangelikalen oder bei den römischen Legionäre, der ‚militia Christi‘.