Was gibt es heute?
Sinn heil – oder: das Latrinengericht
Die Kirche, so sagen ihre obersten Repräsentanten, verfolge ihre „eigene Heilsabsicht“ und glaube, „durch ihre einzelnen Glieder und als ganze viel zu einer humaneren Gestaltung der Menschenfamilie und ihrer Geschichte beitragen zu können“ (Gaudium et Spes, Nr. 40). Sieht man einmal vom Unheil ab, dass allein die sexuelle Gewalt ihrer „Glieder“ und Gliederungen in die „Menschenfamilie“ gebracht hat, indem sie ihre schutzlosesten Mitglieder schändeten und sich damit selbst (und die Mitglieder der Kirche) entehrten, stellt sich ja die Frage, was mit dem Ausdruck „Heil“ gemeint sein könnte. Wollust ist es – christlich – definitiv nicht. Die Frage stellt sich auch, weil die Semantik des Heils nationalsozialistisch belastet ist, worauf Hanno Heil – er muss es ja wissen – in einer ungemein inspirierenden Arbeit mit dem leider allzu trockenen Titel (Die Leitung eines katholischen Altenheims als kirchlicher Beruf?, Sankt Ottilien 2016, 278) hinweist.
Ein anderes Buch, das 2018 mit einem Preis der Académie francaise gekrönt wurde, verspricht in der Heilsfrage Hilfe. Seinem Autor, Christophe J. Kruijen, geht es um die jenseitsbezogene Heilsabsicht. Er macht erneut klar, dass die Rede vom ‚Heil‘ leerläuft, wenn seine implizite Unterscheidung von ‚Unheil‘ nicht mitgedacht wird. Dementsprechend lehnt er die Vorstellung eines grenzenlosen Heils für alle und selbst die Hoffnung darauf strikt ab – nur wenn das Heil verknappt und ein Teil davon ausgeschlossen wird, mache Heil Sinn, werde Sinn heil. So lautet die Antwort des Autors auf „die Frage, ob die Verdammnis von Menschen eine Realität ist oder nicht“: „Nur die klare Beibehaltung eines Urteils mit doppeltem Ausgang steht im Einklang mit der Heiligen Schrift, der Tradition und des kirchlichen Lehramts“ (Hoffnung auf eine Rettung für alle?, in: Forum Katholische Theologie 37/2021). Sinn heil nur dann, wenn auch Unheil. Die Behauptung einer angeblichen ‚Hoffnung für alle‘ ruhe „auf Grundlagen, die zu brüchig sind, um beibehalten zu werden“, schreibt er weiter. Aber wieviele sind es denn, wenn nicht alle? Und wieviel ist ‚viele‘? Augustinus meinte noch, es sei ohnehin nur eine Minderheit, die ins jenseitige Heil inkludiert werde. Der Jesuit Francisco Suárez (+ 1617) öffnete dann in der Gegenreformation die Himmelstüren immerhin für die meisten Katholiken (noch nicht gegendert), um deren Himmelsvorfreude und die Attraktivität der katholischen Sache zu steigern. Und wer kommt nicht rein ins Heil? Anders als Dante, der als Dichter noch mehr als die Kirche „Freiheit zu Sinnüberschüssen“ hat, „die sich der Kontrolle und Deckung durch die Wahrnehmung, durch Auge und Ohr entziehen“ (Hartmann Tyrell), weiß darauf auch der Preisträger keine Antwort, weil sich selbst die Kirche – ausnahmsweise? – unwissend stellt. Der Dichter dagegen weiß viel mehr als der Priester und nennt viele bekannte Personen aus seiner Gegenwart und aus der Vergangenheit, die er im unheilvollen „Reich der Schmerzen“ schmachten lässt, die Wollüstigen ganz oben. Schon in der Vorhölle stößt Dante auch auf einen bekannten Insassen, der seinerzeit sein Papstamt niederlegte. Anders als bei Benedikt XVI., der erst nach knapp acht Jahren resignierte, brachte es der Papst zu Dantes Zeiten nur auf fünf Monate. Anders als Benedikt, ritt der Papst zu Dantes Zeiten, biblischem Vorbild gemäß, auf einem Esel in die Stadt L’Aquila ein, wo er den Namen Coelestin V. annahm. Anders als Benedikt, hat er Rom nie betreten.
Immerhin weiß Christophe J. Kruijen, „dass sich die Unwissenheit der Kirche prinzipiell auf die Identität der Verdammten bezieht, nicht aber auf die Tatsache der Verdammung selbst“. Ob es bestimmten Päpsten und Bischöfen, die rückgetreten sind oder am Rücktritt gehindert wurden, auch so ergehen wird wie Papst Coelestin V.? Gut, dass sich die kirchlichen Oberhäupter in dieser doch eigentlich interessanten Frage unwissend stellen; denn sie sind in dieser Frage „ohne besondere göttliche Offenbarung“, wie schon der heiliggesprochene Heilige Vater Johannes Paul II. 1999 einräumte. Über die Identitäten der Bewohner*innen des Himmels, die Heiligen, weiß die Kirche mehr. Sie werden durch ihre Wunder bestätigt. Nur postmortale Himmelsbewohner*innen können das, Hölleninsass*innen nicht.
Pech ist allerdings, dass auch die „Tatsache der Verdammung“ von der Mehrheit der führenden Theolog*innen in Frage gestellt wird. Sie glauben liebend und hoffend an ein totales Heil. Da sind zwar einige Kompromissler drunter, die an der Hölle als Tatsache festhalten, diese aber mit raffinierten Sinnüberschüssen umfunktionieren. Aus deren Perspektive ist der jenseitige Ort des Unheils dann kein Depot mehr, wo die unverbesserlichen Sünder entsorgt werden, sondern nur noch eine der „Latrinen der Welt, in denen die Sünde an sich entsorgt wird“. Eine solche „radikale Neuinterpretation der Hölle“ durch die Einblendung eines Bildes der Abfallentsorgung – eine komplexe Bio-, Techno- und Soziometapher zugleich – trennt also die Bösen vom Bösen, Personen und Sachen, Sünde und Sünder und macht letztere für das himmlische Heil zugänglich. Alle können dann Heilige werden, weil Unheiliges an ihnen entsorgt wird. Der Rede vom ‚Heil‘ wird so gerade noch Sinn abgerungen, weil ‚Unheil‘ erhalten bleibt. Aber eben leider nicht mehr als „Strafzustand für Sünder“, wie unser Autor moniert. Freilich hätte auch ich Fantasie genug, mir die Päderasten und andere Unheilbringer dieser Welt in jenes Reich der Strafschmerzen hineinzudenken. Pech ist nur, dass die Mehrheit der führenden Theolog*innen auch von einem strafenden Gott nichts mehr wissen will und beides, göttliches Unheil wie göttliche Strafe, ablehnt. Ist in der katholischen Kirche der Polytheismus ausgebrochen, oder welcher Gott soll geglaubt werden?
Niklas Luhmann hatte schon auf die „hohe Hintergrundunsicherheit“ verwiesen, die darin besteht, „daß man sich in der Hinterwelt des Heiligen ohnehin nicht auskennt, und viele sogar leugnen, daß es sie überhaupt gibt“ (Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000). Gibt es das ‚Heil‘ überhaupt, wenn die einen seine Knappheit leugnen und die anderen seinen Überfluss für alle preisen? Was ist heil an dem Heil und der kirchlichen Heilsabsicht, wenn die einen Höchstpreise dafür verlangen, dem postmortalen Unheil zu entgehen, und die anderen das Heil preiswert preisgeben? Welchem Gott gilt das kirchliche Credo? Das ist doch die eigentlich noch interessantere Frage, wenn man nicht leugnen will, dass es ihn überhaupt gibt.