Was gibt es heute?
Skandalon – oder: Das Status-Gericht

Zweifellos hat das Jahr 2010, in dem auch das „Jahr des Priesters“ zu Ende ging, in Deutschland eine zutiefst irdische, wenn nicht unterirdische Kirche vor Augen gestellt. Die Skandale und Skandalisierungen der sexuellen Gewalthandlungen von Priestern und Ordensmännern an Kindern und Jugendlichen legten allerdings mehr als moralische Verfehlungen offen. In einem für jeden Skandal typischen Dreischritt von – wirklicher oder bloß unterstellter – moralischer Verfehlung hochgestellter Personen oder Institutionen (1.), attraktiver und zugleich abstoßender Enthüllung (2.) und einer spontanen Bewegung der kollektiven Entrüstung oder Empörung (3.), die den Skandalversuch erst zum Skandal werden lässt (vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, Frankfurt 2002), eröffnete sich ein Einblick: sowohl in eine Art „Unterwelt“ der Kirche, ein „Schattenreich von normativ nicht gedeckten“ Handlungen, als auch in die Tiefe der moralischen Ordnung unserer Gesellschaft selbst.

Versucht man Ausmaß und Auswirkung jener Skandalisierung des Jahres 2010 zu bestimmen, so demonstrierte sie vor unser aller Augen die Macht der gesellschaftlichen Moral, ja die Vormacht dieser profanen Moral über die Kirche. Damit wurde massiv der gesellschaftliche Status der Kirche verschoben, insbesondere der vom Klerus repräsentierten „Priesterkirche“. Das erhebliche Zivilisationsversagen, das auch noch durch eine unterstellte oder tatsächliche Opferunempfindlichkeit, durch sekundäre Viktimisierungen und durch eine unterstellte oder tatsächliche Schuldunempfindlichkeit kirchlicher Institutionsvertreter bekräftigt wurde, paarte sich noch mit einer „moralischen Lethargie“ aus Kirchenräson (Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise, Freiburg 2011).

Sie manifestierte sich darin, dass sich hohe Geistliche der mangelhaften Affekt- oder Selbstkontrolle, gar der öffentlichen Lüge oder den Vorwurf der Vertuschung gefallen lassen müssen, wenn zum Beispiel Aktenverstümmelungen und Aktenvernichtungen in den Bischöflichen Ordinariaten zu Tage gefördert werden oder Freundschaften allerhöchster geistlicher Autoritäten mit geistlichen Sexualstraftätern wie dem Gründer der Legionäre Christi einer Damnatio memoriae unterworfen werden.

Die Kirche ist mit der Skandalisierung dieser Handlungen ihrer „Unterwelt“ durch die Macht der gesellschaftlichen Moral in eine schwere gesellschaftliche Statuskrise geraten. Indem diese die Vertreter der Kirche zum „demütigenden Kotau“ gezwungen hat, indem alle, ob hoch oder niedrig, sich zu ihr bekennen, Schuld eingestehen, um Vergebung bitten, Reue bekunden, Besserung geloben, zeigt sich die gesellschaftliche Moral – und nicht die der Kirche – als „die Supermacht der demokratischen Gesellschaft“ (Karl Otto Hondrich). Somit hat sich seit 2010 die Grundarchitektur zwischen Kirche und Gesellschaft im öffentlichen Raum massiv zuungunsten der Kirche verschoben.

In diesem Sinne ist die Kirche, die sich in Gestalt ihres hohen Klerus immer wieder kulturpessimistisch über die profane Moral erheben konnte, immer weniger eine Kirche des Volkes oder für das Volk. Jedenfalls scheint sie dabei zu sein, sich als eine solche „Volkskirche“ in der deutschen Gesellschaft zu verabschieden. Tatsächlich berührt und verstärkt diese aktuelle moralische Statuskrise eine Vielzahl von Krisendimensionen, deren Zusammenwirken erst das wahre Ausmaß der Herausforderungen der Pastoral ausmacht, das viele der Verantwortlichen in der Kirche noch gar nicht begriffen zu haben scheinen. (Inzwischen dämmert es einigen, nach 12 Jahren … Denn diesen Text habe ich 2011 in der Herder Korrespondenz publiziert)