Was gibt es heute?
Engerlinge – oder: Das Plagengericht
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Ab Sonntag wird in Deutschland geimpft. Viele sehen darin einen Sieg der Wissenschaft nicht nur über das Virus, sondern auch über die Religion, die in der Coronakrise versagt habe. Tatsächlich sind die Vertreter der christlichen Kirchen weitgehend sprach- und deutungslos – bis auf eine Aussage: Corona sei keine Strafe Gottes. Ein gütiger, nur noch gnädiger Gott wolle – ähnlich wie die Papis von heute – nicht mehr züchtigen: das göttliche Kindeswohl ist die oberste Maxime. Allerdings war die Deutung einer Plage als Strafe Gottes auch zu solchen Zeiten, als sich die Gerechtigkeit Gottes noch nicht auf seine Barmherzigkeit reduzierte, nicht immer die kirchliche Standardantwort gewesen, wie gern unterstellt wird. Plagen konnten auch andere Ursachen haben, wurden anderen Urhebern zugeschrieben. Und die Kirche hat dagegen mit ihren eigenen Mitteln angekämpft.
So versuchte sie im Mittelalter Schädlingen mit kirchenrechtlichen Mitteln beizukommen: Exorzismus und Exkommunikation. Heuschrecken und Engerlinge wurden mit brennenden Kerzen und im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes exkommuniziert, obgleich es sich ja bei Tieren nicht um Mitglieder der Kirche handeln konnte. Krankheit bringende Würmer oder Mäuse wurden verflucht, bis von ihnen „an keinem Ort mehr Überreste zu finden sind, ausgenommen solche, die dem Heil und Gebrauch der Menschen nützlich sind“, wie Peter Dinzelbacher belegt (Exkommunizierte Engerlinge, in: Das fremde Mittelalter, Darmstadt 2020). Angeblich hat, so schreibt der Mittelalterforscher weiter, „die katholische Kirche in Kanada bis in die Zwischenkriegszeit hinein solche Exorzismen gegen Schädlinge vollzogen“. Ähnlich ging es Delphinen, die im Hafen von Marseille Schiffe blockierten. Ein Bischof besprengte die Tiere ordentlich mit salzigem Weihwasser, und die schwammen dann ins salzige Meerwasser hinaus. Tierische Plagegeister als Strafe Gottes? Man hat sich davor gehütet, Tierplagen als Zuchtruten Gottes zu deuten, denn es wäre „blasphemisch gewesen, dagegen Methoden des Kirchenrechts einzusetzen“. Kirchenrecht konnte nur im Namen Gottes, nicht gegen ihn eingesetzt werden, wie man bis heute glaubt.
Weshalb werden Methoden des Kirchenrechts – etwa das Ritual des Exorzismus – heutzutage nicht auch gegen die Plage der Coronaviren eingesetzt, gerade dann, wenn sie als göttliche Strafe verneint werden? Zwei Antworten liegen nahe, andere nicht ausgeschlossen.
Antwort 1: Viren sind nicht greifbar wie Engerlinge; denn das kirchliche Gerichtsverfahren sah vor, dass ein Prokurator „die Tiere persönlich vor Gericht zu zitieren hatte. Ein amtlicher Bote begab sich persönlich zu ihnen und forderte sie auf, zum gesetzten Termin zu erscheinen. Bei der Verhandlung nimmt der Richter ein oder mehrere Exemplare der Schädlinge in die Hand und befiehlt ihnen, binnen von drei Tagen das Gebiet, in dem sie sich aufhalten, zu verlassen“, so Dinzelbacher.
Antwort 2: Viren sind überhaupt keine Tiere oder sonstige Lebewesen. So muss die rituelle Macht der Kirche zur Bekämpfung von Plagen gegen Corona heute ebenso leerlaufen wie die Deutung der Pandemie als göttliche Strafe. Ersteres wäre sinnlos, Letzteres konflikthaft.
Ab jetzt wird geimpft, und die rituell wie deutungsohnmächtigen Sozialkirchen rufen – systemrelevant oder nicht – zur Selbstaktivierung des Immunsystems auf. Rom hat keine Bedenken, wenn zur Entwicklung des Impfstoffs Zelllinien abgetriebener Föten verwandt wurden, so eine Note der Glaubenskongregation. Und die hiesigen Sozialkirchen erklären die Bereitschaft zum eigenen Impfen als Akt der Solidarität. Sie fordern von Anderen sozialpolitische und ökonomische Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Leere Kirchengebäude stehen für Impfzentren zur Verfügung. Leere Worte stecken nicht an.