Was gibt es heute?
Gula – oder: das Lehmann-Gericht

Kardinal Lehmann, der vor gut 85 Jahren geboren wurde, war bekanntlich kein Kostverächter. Kulinarisch gesehen. Um nichts anbrennen zu lassen, gab er sogar ein besonderes Kochbuch heraus, noch bevor er vor 20 Jahren „zum Kardinal erhoben“ wurde. Ja, Lehmann hatte mehrere Gesichter. „Kulinarisch durchs christliche Leben gehen“, heißt das 1997 in zweiter Auflage erschienene Rezeptbuch. In ihm finden sich Gerichte, die „zum ersten Mal gedruckt“ sind. Ja, auch so geht Nachfolge Christi konkret. Beim Tischgebet lädt man ihn ein („Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“), beim Essen folgt man ihm kauend nach, und das war’s dann? Die christliche Mahlgemeinschaft wird damit gleichsam auf Dauer gestellt. Das Lehmann-Kochbuch führt „spielerisch und leicht durch den Reigen des Kirchenjahrs und hält immer wieder ein Blatt mit überraschenden Einladungen parat“, schreibt der Bischof von Mainz im Vorwort. Rund um den Kirchturm und rund um den Kochtopf erhalte man auf diese Weise die Möglichkeit, „auch einmal über den Rand des eigenen Kochtopfes hinauszublicken“. „Ich wünsche dem Buch“, schreibt er abschließend, „daß es auf großen Appetit stößt und von vielen buchstäblich verschlungen wird“. Gott sei Dank „sind Christen […] keine Kostverächter und Trauerklöße, im Gegenteil“. Ein Bischof weiß alles.

Als Vater seiner Kirchenkinder hat er sie auch zu nähren. Norbert Lüdecke erinnert an die familialistische Fürsorge der Kirche in seinem neuesten Buch (Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021, 195) und belegt sie unter anderem mit einem entsprechenden Zitat aus einer Ansprache von Papst Johannes Paul II. am Jahr der Jahrtausendwende, also kurz bevor der Lehmann zum Kardinal ernannte: „Wie sich die Kirche in ihrer mütterlichen Sorge mit den Söhnen und Töchtern solidarisiert, so steht sie ihnen gleichzeitig gegenüber. Die Mater ist auch Magistra; sie hat die Autorität, ihre Kinder zu erziehen, zu lehren und so zum Heil zu fuhren. Mutter Kirche gebiert, nährt und formt ihre Söhne und Tochter. Sie sammelt und sendet ihre Kinder, denen sie zugleich die Gewissheit gibt, in ihrem Mutterschoß geborgen zu sein“ (Hervorhebung MNE). So begegnet, schreibt Lüdecke treffend, „die maternal personalisierte Kirche den Gläubigen konkret in der paternal verfassten Leitung vor allem durch Papst und Bischofe“.

Doch hat der Bischof in seinem Nahrungsempfehlungskochbuch den heilsvorsorglichen Hinweis auf die Gula, die Todsünde der Gefräßigkeit und Völlerei, vergessen. Denn davor warnt er nicht. Verständlich, denn das Sündenverständnis in der Kirche ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Erst vor einigen Jahren hat der Untersekretär des Päpstlichen Rats für die Interpretation der Gesetzestexte, Markus Graulich, gemeint, dass er die offizielle Kirche „schon länger vor der Schwierigkeit“ sieht, „dass ein Begriff dessen fehlt, was Sünde, beziehungsweise was schwere Sünde ist.“

Für Christi Himmelfahrt (S. 45) empfiehlt das Lehmann-Kochbuch der „Ausflugsgesellschaft“ einen „Sieben-Tassen-Salat“; für Pfingsten (S. 49) entweder Windbeutel oder Flammkuchen. Der habe auch „schon Firmlinge“ begeistert und sich für die „Verköstigung von Partyrunden“ geeignet. Für Fronleichnam (S.49) gibt’s nur die Hostien aus dem „Kloster der Ewigen Anbetung“ in der Mainzer Innenstadt. Für den Urlaub (S. 53) rät Lehmann zu Cevapcici, von den Ordensschwestern aus Bosnien, die ehemals seinen Haushalt im Bischofshaus versorgten, ganz besonders originell zubereitet. Für Mariä Himmelfahrt (S. 57) am 15. August werden „Marienküchlein“ empfohlen. Auch hier wird nicht vor der Todsünde der jenseitiges Unheil riskierenden Völlerei, sondern väterlich-fürsorglich vor den prämortales Unwohl  erzeugenden Kräutern gewarnt, die sitten- und brauchbewusste Katholikinnen sammeln und zu Sträußen binden: „nicht direkt für den Kochtopf zu verwenden“! Statt um Heil und Unheil kümmern sich die Vertreter der Kirche um Wohl und Unwohl.