Was gibt es heute?
Wallenda – oder: das Drahtseilgericht

Neulich las ich in einer Tageszeitung: „Mein Vater fuhr mit dem Fahrrad auf dem Seil, meine Mutter saß auf seinen Schultern und hielt mich im Arm“. So beschrieb die jüngst 85jährig verstorbene Akrobatin Carla Wallenda einen früheren Stunt ihrer Familie. Aus ihrer Verwandtschaft hatten sich später mehrere Mitglieder – dann auch ihr Vater Karl in Puerto Rico – bei Stürzen vom Hochseil tödlich verletzt. Sie selbst konnte sich – 81jährig – mit einem Kopfstand auf einer Schwebstange in 25 Metern Höhe aus dem Geschäft ihrer ‚High Reliability Organization‘ verabschieden.

Ist das eine – vielleicht gewagte – Metapher für die (katholische) Kirche? Ich meine das hochriskante Wackelbild der dreieinigen Familie auf dem Seil. An Vaters Stelle steuert der Bischof die Kirche, die es ohne ihn nicht geben kann; denn die Kirche – so schon Ignatius und dann Cyprian – ist da, wo der Bischof ist.  ‚Mutter Kirche‘, wie sie unter den Mitbrüdern seit Paulus und Cyprian genannt wird, sitzt auf des Bischofs Schultern. Nur ihm ist ja in seiner fürsorglichen „Vater- und Hirtenaufgabe“ die „Vollmacht erteilt, die Gläubigen, über die sie nach Maßgabe des Rechtes ihre Gewalt ausüben“ (Dekret Christus Dominus, 8b, 16), zu lehren, zu leiten und zu heiligen. Die Bischöfe gelten als „wahre Väter, die sich durch den Geist der Liebe und der Sorge für alle auszeichnen und deren von Gott verliehener Autorität sich alle bereitwillig unterwerfen“ (ebd. 16). So patriarchalisch ausbalanciert, schützt die Kirche – wie Maria, die auch ‚Mutter der Kirche‘ genannt wird, den Jesusknaben – ihre mehr oder weniger gläubigen Kindlein beim Hochseilakt ihrer ‚mission‘. Die Bischöfe sollen sogar „die mütterliche Sorge der Kirche um alle Menschen, seien sie gläubig oder ungläubig, unter Beweis stellen“ (ebd. 13). Allerdings sind auch von den – derzeit weltweit über 4000 – katholischen Bischöfen, die eine Diözese leiten, schon einige vom riskanten „Weg der Wahrheit abgewichen“ (ebd. 11): abgestürzt wegen Alkoholmissbrauchs, sexuellen Missbrauchs oder Managementmissbrauchs. Es menschelt ja in der Kirche, und auch die hochgeachteten Bischöfe sollen immer „bedenken, daß sie aus den Menschen genommen und für die Menschen bestellt sind“ (ebd. 15). Ja, woher und wofür denn sonst?

In den nächsten Tagen werden wir auch in Deutschland einige dieser Exzellenzen – vielleicht auch Eminenzen – weiter straucheln und wohl auch abstürzen sehen. Und nicht nur diese. Denn von den „Führern zur Vollkommenheit“, wie auch die Bischöfe genannt werden,  „hängen bei der Ausübung ihrer Gewalt sowohl die Priester ab […], als auch die Diakone“ (ebd. 15). Diese „Söhne und Freunde“ (ebd. 16) sind ‚mitgefangen und mitgehangen‘, wenn nicht „die ganze Familie ihrer Herde“ (ebd. 16). Auch die „getrennten Brüder“, die sie lieben sollen, und die „Nichtgetauften“, die ihnen am Herzen liegen sollen (ebd. 16), werden entsetzt und erschüttert sein. Es droht Unheil einigen und von einigen, deren Amtsausübung „auf das Heil der Seelen ausgerichtet“ (ebd. 19) sein soll.

Verwandte von Carla und Karl leben als Artisten weiter und verbringen sogar doppelte Drahtseilakte. Von ihrer ‚High Reliability Organization‘ könnte die Kirche für ihr Weiterleben lernen. Carlas Neffe, der Hochseilartist Nik Wallenda, überquerte zusammen mit seiner luftakrobatischen Schwester Lijana auf 80 Metern Höhe sogar den Times Square auf einem ca. 400 Meter langen Seil. Mann wagt mit Frau zusammen das Risiko am doppelten Rande des Chaos. Geschwisterlich, nicht mütterlich oder väterlich. Und, so heißt es: „Auf behördliche Anweisung verwendeten sie dabei ein Sicherungsseil“.