Was gibt es heute?
Zwergsorgen – oder: das Restgericht

An Weihnachten 1954 wurde meinem jüngst verstorbenen Schwiegervater, damals 23jährig, ein Buch aus der bereits üppig blühenden Gattung der Ratgeberliteratur geschenkt. Ich habe es in seinem Nachlass gefunden: Titel: „Mehr Erfolg und Lebensfreude auch für Sie!“, 261 Seiten dick und im renommierten betriebswirtschaftlichen Gabler-Verlag veröffentlicht. Es enthält zum einen – wie Talcott Parsons sagen würde – „existential ideas“, die einen Wahrheitsanspruch erheben, also im Indikativ daherkommen. Zum anderen ist es gespickt mit „normative ideas“, also mit Aussagen, die einen Sollenscharakter tragen. Es ist teilweise ‚witzig‘ zu lesen, welche ‚Weisheiten‘ in der späten Nachkriegszeit, also vor 70 Jahren, verkündet wurden, aber nur teilweise:

Ich zitiere aus dem Ratgeber für Lebensfreude zunächst einige der ‚existential ideas‘ (und setze in Klammern meine Kurzkommentare):

  • Es ist nie zu spät, das Leben beginnt jeden Augenblick neu!“ (Manchmal endet es auch).
  • „Ohne Erfolg keine echte Lebensfreude!“ (und umgekehrt?).
  • „Sobald sich … Versager bemühen, zu lernen, nach den Gesetzen des Erfolgs zu denken und zu handeln, können auch sie durchaus zu erfolgreichen Menschen werden!“ (Ist das Leben nicht ein ‚gemischter Satz‘?).
  • „Weitaus die meisten Menschen geben zu viel ihren Schwächen nach und nützen zu wenig ihre Stärken.“ (Was heißt „zu viel“? Es gibt auch starke Schwächen und schwache Stärken).
  • „Alle Fähigkeiten kann man mit Übung erwerben und steigern.“ (Stimmt – nicht!).
  • „Alle Erfolgreichen dienen den Versagern als Zielscheibe für die Pfeile ihres Neides, Hasses, Hohns und Spotts.“ (Unvergessen konservativ-kritisch: Helmut Schoeck, Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg/München 1966).
  • „Von der Unzahl der Befürchtungen, die die Menschheit täglich ausspricht, trifft nur ein Bruchteil ein“ (Wie lange gilt das noch?).
  • „Es ist bewiesen, daß denen, die sich selbst vor Krankheiten wie Pest, Typhus, Cholera gar nicht fürchteten, auch nichts geschah.“ (Schön wär’s).
  • „Der Fortgeschrittene ärgert sich überhaupt nicht mehr, schon gar nicht über die Unvollkommenheit anderer“ (ohne Kommentar).

Hier nun einige der ‚normative ideas‘ (in Klammern wieder meine Kurzkommentare):

  • „Wer leben will, der stelle sich zum Kampf ums Dasein!“ (Sozialdarwinistisches Residual).
  • „Glauben Sie nicht, daß Sie für alle Zukunft so bleiben, wie Sie zufällig gerade sind, und ‚nicht aus Ihrer Haut heraus‘ könnten.“ (Glaub ich auch nicht, es ist manchmal zum AusderHautherausFahren).
  • „Erforschen Sie sich, bis Ihr Lebensideal, Ihr Lebensziel, der Schlüssel zu Ihrer Zukunft, zutage tritt!“ (s. oben: „Es ist nie zu spät, das Leben beginnt jeden Augenblick neu!“).
  • „Sie können den Erfolg erzwingen, wenn sie seinen ewigen Gesetzen von Ursache und Wirkung gehorchen.“ (Hier zwingen, dort gehorchen).
  • Ja, ‚Alterchen‘, wer hindert Sie denn, jetzt noch einmal anzufangen und richtig loszulegen, um den jungen Leuten zu zeigen, was in Ihnen steckt?“ (Die Frage muss heißen: Wer oder was …?).
  • „Sparsam wirtschaften mit unserem Vorrat an Lebensenergie!“ (Homo oeconomicus).
  • „Andere für sich arbeiten lassen!“ (Homo oeconomicus2.0).
  • „Wenn Sie positive Gedanken immer wieder denken, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, dann entwickeln Sie sich nach dem Naturgesetz des allmählichen Wachstums zu einer Riesenkraft, die Sie im Lebenskampf zum Sieger macht.“ (Wie bitte, ‚jede Minute‘? Einige Zeilen drüber heißt es noch im Indikativ: „Kein Mensch kann zwei Wörter gleichzeitig aussprechen. Ebenso wenig kann man zwei Dinge auf einmal denken!“).
  • „Beurteilen Sie jede scheinbar peinliche Sache so, wie Sie nach einer Woche, einem Monat oder einem Jahr darüber denken würden.“ (Gott urteilt wohl anders, wenn er ewig ist).
  • „Denken Sie nur 24 Stunden voraus! Nehmen Sie jeden Tag für sich vor!“ (Chaos).
  • „Vergleichen Sie Ihre Sorgen und Nöte auch ruhig öfter mit denen anderer, die noch tausendmal schlechter daran sind und doch den Mut nicht sinken lassen, und Ihre Sorgen werden zu kaum erwähnenswerten Zwergsorgen zusammenschrumpfen. Dann geben Sie ihnen den Rest“ (Zwergsorgen!).
  • „Gewöhnen Sie sich das Sich-Ärgern ab. Probierens Sie’s nur! Es geht! Nehmen Sie vereinzelte leichte Rückfälle nicht weiter tragisch.“ (Ich probier’s mal).
  • „Machen Sie sich keine Sorgen darüber, was die Menschen von Ihnen denken; sie denken nämlich gar nicht über Sie nach, sondern darüber, was Sie von ihnen denken.“ (Sehr weise!).

Zum Schluss noch ein Gruß aus der Küche des Lebenskunstberaters Hans K. Wester:

„Glauben Sie fest an den Erfolg Ihrer Einflüsterungen! Wer zweifelt, sät sich bekämpfende Gedanken und erntet Mißerfolg“.

Una bottiglia di grappa, per favore, kann ich da nur noch ausrufen, überzeugt davon, dass schon Johannes, der junge Leser von damals, nicht alles geglaubt und erst recht nicht befolgt hat. Doch den Verlag gibt es noch heute.